Normalerweise, wenn ich ein Buch auf meinem Romanfriedhof zu Grabe trage, bedeutet das, dass dieses Buch tot ist, mausetot, und ich nie wieder daran arbeiten werde. Es gibt Ausnahmen – so habe ich »Die Welt in der Wühlkiste« ausgeschlachtet und daraus meine »Neraval-Sage« gemacht, und ich plane schon ganz lange, »Klagende Flamme« komplett neu aufzuziehen, abzüglich der zu spät erkannten rassistischen Tendenzen der ersten Fassung, aber noch habe ich mich da nicht drangetraut, da ich mir nicht sicher bin, ob ich schon in der Lage bin, wirklich etwas Besseres als damals aus der Idee zu machen. Aber mit meinem letzten Friedhofsfall ist etwas Erstaunliches passiert. Ich hatte den Beitrag für mein Blog eben erst beendet, und noch nicht gepostet, als ich spontan Lust auf das Buch bekam. Und die Graberde hatte sich noch nicht gesetzt, da griff ich zur Schaufel und buddelte meine Buchleiche wieder aus.
Über diese Geschichte zu schreiben, hatte mir vor Augen geführt, wie stolz ich eigentlich auf das Konzept war, wie sehr ich die Figuren immer noch mochte – und wie gut dieses Buch doch auf dem heutigen Buchmarkt funktionieren könnte. Vor elf Jahren, als ich meinen ersten Versuch mit den »Kindern des Hauses Otrempa« machte, war der Plot, wie so vieles, was ich schreibe, ein Outlier. Mein einziger Vergleichstitel, als ich das Buch meiner Agentin pitchte, war William Sleators »Haus der Treppen«, und das Buch stammte aus den Siebzigern. Meiner Agentin gefiel das Konzept trotzdem, und ich denke, sie hätte es auch gerne angeboten – aber dann habe ich es vor die Wand geschrieben, gewusst, das wird nichts mehr, und die Agentin informiert, dass die Otrempas nicht mein nächstes Veröffentlichungsprojekt werden.
Und wegen Episoden wegen dieser bin ich auch so froh, dass ich üblicherweise Bücher erst anbiete, wenn sie schon sehr weit gediehen sind und absehbar, dass sie auch wirklich fertig werden, oder, noch lieber, schon fertig in der Schublade liegen. Letztes Jahr habe ich meine »Vierte Wand« an meine Lektorin gepitcht, als ich nur eine vage Idee und fünfundzwanzig Seiten Text hatte, und war selbst am Erstauntesten, als sie ausgerechnet darauf angesprungen ist und ich mir plötzlich einen Schluss für diesse Geschichte ausdenken musste. Ich mag das, was am Ende dabei rausgekommen ist, und das Schreiben ist mir erstaunlich gut von der Hand gegangen: Trotzdem, ich bleibe dabei, dass ich am liebsten fertige oder so-gut-wie-fertige Manuskripte anbiete.
Wenn ich mir jetzt vorstelle, ich hätte 2013 meine Otrempas verkauft, auf Basis der damaligen Fassung der Geschichte – dann wäre mir das ziemlich unangenehm. Diese Geschichte enthält Wendungen, derer ich mich heute schäme, und es ist deutlich besser, sich für etwas zu schämen, das als viertelfertiges Wrack in der Schublade liegt, als für etwas, das man veröffentlicht und in die Welt gesetzt hat, wo es jeder sehen kann. Die missbräuchliche Beziehung, die ich da als vermeintlich süße Romanze zwischen Kjerom und Yiouwhee eingebaut hatte – wobei sie ausnutzt, dass er nach einem Fieberschub seine Erinnerungen verliert und immer dann mit ihm rummacht, wenn sie weiß, dass er es wieder vergessen wird – ist abscheulich und nicht das, was ich lesen möchte, geschweige denn selbst schreiben.
Aber ich hatte Glück: Ich habe das Buch vor die Wand gefahren. Und bin jetzt elf Jahre älter, reifer, und habe einfach so viel mehr über Consent gelernt, als ich mir 2013 vorstellen konnte. Natürlich wollte ich nicht eine missbräuchliche Beziehung romantisieren. Und habe doch genau das getan, ohne es zu verstehen. Jetzt, als ich beschlossen habe, meinen Otrempas nochmal eine Chance zu geben, war klar, dass ich keinen Stein auf dem anderen lassen kann. An andere Bücher, die lange geruht haben, wie kürzlich meine »Traumstadt« oder letztes Jahr die zwölf Jahre auf Eis liegenden »Elomaran«, habe ich einfach anknüpfen und weiterschreiben können, aber das konnte ich hier nicht machen. »Die Kinder des Hauses Otrempa« mussten bei Null anfangen, gründlich unter die Lupe genommen werden, um zu entscheiden, welche Teile des Plots ich noch verwenden kann und was ich, außer der vermeintlichen Liebesgeschichte, ich in die Tonne treten musste.
So tat ich etwas, das ich elf Jahre lang nicht getan hatte: Ich las nochmal alles, was ich – überwiegend im Nanowrimo 2013 – zu Papier gebracht hatte. Und war dann doch erstaunt, wie viel von dieser Geschichte mir doch noch gefiel. Das Exposé, das ich seinerzeit für meine Agentin aufgezogen hatte, war hingegen eine Qual zu lesen. Erstmal war das echt kein gutes Exposé. Dann war das Plot, den ich bis zum Ende des Buches durchgeplant hatte, ziemlich konfus. Vor allem aber stieß mir auf, wie ich damals die Zielgruppe eingeschätzt hatte: ein Buch Erwachsene, das war meine Annahme, und in Anbetracht der der Tatsache, dass Yiouwhee mit Kjerom offenbar Sex hat, während er fiebert, war das vielleicht auch angebracht. Dass die Protagonisten – die damals zirka siebzehn, achtzehn Jahre alt sein sollten – dabei immer wieder als »Kinder« bezeichnet wurden, machte den Cringe-Faktor nur noch gewaltiger.
Jetzt verstand ich, dass mein Buch danach schrie, ein Jugendbuch zu werden. Die Figuren und die Dynamik zwischen ihnen, vier junge Menschen auf der Suche nach sich selbst, sollte so viel besser zu einem jungen Publikum passen als zu Erwachsenen. Und da ich ja sowieso vorhatte, diese vermaledeite Liebesgeschichte rauszuschmeißen, konnte ich auch gleich Nägel mit Köpfen machen und das Buch zu einem Projekt machen, das ich einmal meinem Kinderbuchverlag anbieten könnte, Zielgruppe: zwölf und aufwärts. Die Figuren sollten besser funktionieren, wenn sie nicht siebzehn, sondern vierzehn Jahre alt wären, mitten in der Pubertät, und dass dann ihre heranwachsenen Körper mit der in sie injizierten Magie clashen würden, konnte auch erklären, warum Kjerom dauernd Fieber bekommt …
Denn das Fieber, das beschloss ich, sollte in der Geschichte bleiben, und die damit verbundenen Gedächtnisaussetzer ebenfalls. Nur, dass Yiouwhee das nicht mehr ausnutzen und eine sexuelle Beziehung zu Kjerom initiieren würde. Das musste raus, und einiges andere ebenfalls. Mir gefiel auch nicht mehr, wie ich Inxiru, den Feuermagier geschrieben hatte, als einen kindischen Jungen, der sich für kaum etwas anderes zu interessieren schien als die Streiche, die er seinen vermeintlichen Geschwistern spielen konnte. Dabei hatte ich schon damals geplant, dass Inxiru heimlich in Kjerom verliebt ist und eifersüchtig darauf reagiert, als Kjerom, der wider Erwarten nach dem letzten Fieber seine Erinnerung nicht verliert, und Yiouwhee danach offiziell ein Paar sind. Was, wenn ich das umdrehte? Wenn es nicht Yiouwhee wäre, mit der Kjerom zusammenkäme, sondern Inxiru?
Ich weiß nicht, warum ich 2013 davor zurückgeschreckt bin, eine queere Liebesgeschichte in mein Buch einzubauen. »Zurückgeschreckt« ist wahrscheinlich das falsche Wort. Ich glaube, ich wollte meine Vielseitigkeit beweisen und zur Abwechslung einmal eine heterosexuelle Beziehung schreiben, nachdem ich gerade mehrere Bücher über den bisexuellen Geisterfotographen Percy und seinen Freund, den Schwarzmagier Howard, geschrieben hatte, und vielleicht spielte auch noch mit rein, dass ich es dem Buch einfacher machen wollte, einen Verlag zu finden, nachdem schon das restliche Konzept zu außergewöhnlich erschien.
Aber inzwischen haben sich die Zeiten geändert. Zum einen gibt es viel mehr queere Themen im Roman, ob Erwachsenen- oder Jugendbuch, insbesondere von Own-Voice-Autor:innen, zu denen ich mich hier auch zähle, zum anderen ist, dank Büchern wie Susanna Clarkes »Piranesi« oder Kai Meyers »Fürimmerhaus«, das Setting mit der Verbotenen Stadt, in der weite Teile der »Kinder des Hauses Otrempa« spielen, längst nicht mehr so abgedreht und exotisch, wie ich das vor elf Jahren eingeschätzt habe. Noch nicht unbedingt Mainstream, aber doch gut genug etabliert, um daran anknüpfen zu können. Und was queere Themen angeht: Die lasse ich mir heute auch nicht mehr vergeben. Als ich damals meine »Spiegel von Kettlewood Hall« geschrieben habe, war die Vorgabe von Seiten des Verlags: Es muss eine Liebesgeschichte drin sein, hetero. Das würden weder der Verlag noch ich heute so mitmachen. Die Zeiten ändern sich, und das auch manchmal zum Guten.
So fing ich im März 2024 nochmal ganz vor vorne an mit meinen »Kindern des Hauses Otrempa«. Ich machte die Kinder jünger, ich ließ Kjerom Yiouwhee einen Korb geben, den sie auch akzeptierte, und dann ließ ich ihn tatsächlich mit Inxiru zusammenkommen, bei vollem Bewusstsein und ohne Fieber und in beidseitigem Einverständnis. Die beiden küssen sich – ich denke, das ist zumutbar in einem Buch für Zwölfjährige, und auch wenn ich selbst mit zwölf Jahren wirklich kein gesteigertes Interesse an Romantik oder Küssen hatte, denke ich, dass ich damals auf einen queeren Stoff anders reagiert hätte – aber den gab es damals im Kinderbuch gar nicht, und im Jugendbuch nur im Zusammenhang mit Problemgeschichten, darüber hinaus gab es keinerlei queere Repräsentation. Heute sieht das anders aus, und ich denke, dann dürfen sich Kjerom und Inxiru auch küssen.
Ganz unproblematisch ist das immer noch nicht – nicht, weil ich denke, dass ein schwuler Kuss heute noch irgendeinen Skandal auslösen könnte, aber weil die Kinder unter der Illusion aufgewachsen sind, Geschwister zu sein. Sie glauben nicht daran, namentlich nicht, dass sie blutsverwandt sind – Kjerom ist weiß, Inxiru ist Schwarz, und dazu kommt, dass Inxiru noch Erinnerungen an seine richtige Familie hat und weiß, dass die Otrempas angelogen werden. Und natürlich ist es nicht so ungewöhnlich, dass Jugendliche, die abgeschnitten vom Rest der Welt aufwachsen, irgendwo hin wollen mit ihrer erwachenden Sexualität und sich diejenigen verlieben, mit denen sie aufwachsen sind, weil einfach sonst niemand da ist. Das alles ergibt ziemlich viel sinn, und doch denke ich, dass sich Leser:innen an dieser wendung stören werden, und ich muss schauen, wie sich dieser Aspekt der Geschichte auf die Dauer entwickeln wird und wie ich das an meiner Agentin und, später, an der Lektorin vorbeibekomme.
Ich habe noch viel Arbeit vor mir mit diesem Buch, das weiß ich. Aber seit ich im März angefangen habe, mir diese Geschichte nochmal vorzunehmen, ist sie regelrecht abgehoben. Aus meinem ersten Versuch von 2013 hatte ich gut 35.000 Wörter an Text – jetzt, keine zwei Monate nach dem Neuanfang, ist es gut das Doppelte, und das, was ich habe, gefällt mir deutlich besser als die erste Fassung. Ich habe die Verbotene Stadt, die bis dahin eine leblose Kulisse war, ausgearbeitet mit ihren vier Flügeln, die auf die vier großen Sphären der Magie – Feuer, Wasser, Luft und Stein – ausgereichtet sind, und habe mich da architektonisch ausgetobt: Wenn vier Kinder auf Jahre in einer einzigen weitläufigen Anlage festsitzen, dann muss diese Anlage auch fühlbar werden, das haben mich Clarke, Meyer und nicht zuletzt Alessandra Reß‘ Blogartikel zum Thema »Fantasy Edifices« gelehrt, und ab dem Moment, als mein Setting zum Leben erwachte, tat das auch die Geschichte selbst.
Jetzt bin ich am Scheidepunkt angekommen. Vom Plot her bin ich jetzt da gelandet, wo die Kinder aus der Verbotenen Stadt ausbrechen, und das letztes, was sich als Plotwendung ergeben hat, ist, dass sich ihre Wege trennen, dass Tan, die Zeit/Steinmagierin zurückbleiben will, während Kjerom, Inxiru und Yiouwhee fliehen. Das hatte ich nicht geplant, aber es hat sich ergeben, und ich beschwere mich nicht über etwas, das sich aus den Figuren und ihrer Dynamik ergibt. Nur passt jetzt das, was ich vor elf Jahren an weiterer Handlung geplant hatte – das Buch war immerhin durchgeplottet bis zum Schluss – nun vorne und hinten nicht mehr. Da sollte es sich um Yiouwhee drehen, hin und hergerissen zwischen ihrem Drang nach Freiheit und ihrer Liebe zu Kjerom – nur ist Yiouwhee jetzt ja gar nicht mehr mit Kje zusammen, sondern solo, und ihr Konflikt ist keiner mehr, sie kann die Freiheit wählen, ohne sich grämen zu müssen. Und Kjerom, auf der anderen Seite, sollte sich immer mehr im Wahn verlieren – da weiß ich nicht, wie gut sich das in einem Buch für Zwölfjährige umsetzen lässt. Ich denke, eher gar nicht.
Da muss ich also nochmal ran und schauen, wie die Geschichte jetzt weitergehen soll. Ich habe kein Probem damit, den alten Plot in die Tonne zu treten und etwas neues draus zu machen – nur habe ich noch keine Ahnung, was. Und so werde ich jetzt, denke ich, »Die Kinder des Hauses Otrempa« nochmal für ein paar Wochen auf Eis legen, bis ich weiß, wo ich mit der Geschichte hin will. Ursprünglich hatte ich geplant, das Buch noch diesen Sommer an meine Agentin zu schicken, aber ich denke, ich will nichts überstürzen. Ich liebe diese Geschichte, und ich will nichts vom dem, was ich jetzt geschrieben habe, verhunzen, indem ich es über den Zaun breche. Ich habe gegenwärtig den Luxus, dass niemand auf diese Geschichte watet – und das kann ich ausnutzen und meinen Otrempas die Zeit gönnen, die sie brauchen. Der Weg soll nur keine elf Jahre mehr dauern – und mich nicht nochmal über den Romanfriedhof führen.
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