Die Spur des Noir

Im Rahmen von »wieder mehr lesen« bin ich bei einem langjährigen Lieblingsbuch von mir angekommen, das – zusammen mit seiner Verfilmung – meinen schriftstellerischen und persönlichen Werdegang mehr geprägt hat als kaum ein anderes. Ich werde es rezensieren, so wie ich alles, was ich zur Zeit lese, rezensiere – aber es würde den Rahmen einer Rezi sprengen, da auch noch auf alles, was dieses Buch Ende der Achtziger mit mir gemacht hat, einzugehen, insbesondere, weil ich meine eigenen Werke üblicherweise aus den Rezensionen raushalte, so dass ich das hier in mein Autorenblog auslagere. Die Rede ist von Dashiell Hammetts Roman »The Maltese Falcon« und seiner 1941er Verfilmung, die hierzulande unter dem Namen »Die Spur des Falken« gelaufen ist.

Es war wahrscheinlich 1989 und ich um die vierzehn Jahre alt, als ich diesen Film das erste Mal gesehen habe. Und er war anders als alles, was ich bis dahin gesehen hatte. Das war meine erste Begegnung mit dem Film Noir, mit Geschichten, in denen niemand wirklich gut ist und sich alles in einer moralischen Grauzone bewegt. Und es hat mich geflasht. Bis dahin hatte ich nur englische Krimis gelesen, vorzugsweise von Dorothy L. Sayers und Agatha Christie – Bücher, in denen ein mehr oder weniger schrulliger Detektiv einen Mord aufklärt und Ende des Buches das Gute siegt. Und in der Art waren auch die Krimis, die ich schrieb, oder besser, die ich zu schreiben versuchte: Ein mehr oder weniger perfekter Mord, an dessen schriftstellerischer Aufklärung ich hartnäckig scheiterte.

Ich machte falsch, was immer man falsch machen konnte. Ich versuchte, meine Krimis in England anzusiedeln, wo ich noch nie gewesen war. Ich versäumte es, meine Ermittler mit so etwas wie einer Persönlichkeit auszustatten. Und ich war unfähig, meinen Mördern irgendetwas nachzuweisen. Mein erster Krimi-Gehversuch nahm mit seinem Arbeitstitel »Lebensecht Sterben« sogar das Mordmotiv vorweg, und ich hätte es vielleicht besser aus Perspektive des Schauspielers geschrieben, der Morde begeht und auf Video aufzeichnet, um sich damit auf seine anstehende Sterbeszene vorzubereiten – so war ich in jeder Hinsicht zum Scheitern verurteilt, denn die Polizeiermittlerin Millie Miller, die ihm auf die Schliche kommen sollte, brachte es einfach nicht –

Und dann kam der Malteserfalke und stieß mir eine tür auf, von der ich nicht mal gewusst hatte, dass sie existierte. Zum ersten Mal nahm ich Figuren als Charaktere wahr. Und ich muss zugeben, dass ich wohl ein bisschen zu jung war, den Film Noir und den Hardboiled sofort in seiner ganzen Bandbreite zu verstehen. Mich störte die Frauenfeindlichkeit, es gab eigentlich keine Mordermittlungen, und wirklich, niemand war sympathisch, noch nicht mal die Hauptfigur. Aber es gab einen Lichtblick, und das war Joel Cairo, dargestellt von Peter Lorre. Cairo hatte Manieren, die jedem anderen in diesem Film abzugehen schienen, und schaffte es, selbst dann noch zu lächeln, wenn er eine Pistole zog und ankündigte, Sam Spades Büroräume zu durchsuchen. Joel Cairo war auch sehr, sehr deutlich schwul. So deutlich, dass das selbst bei mir ankam.

Es waren die späten Achtizger. Homosexualität hatte keine Präsenz im deutschen Fernsehen, und in dem kleinen münsterländischen Dorf, in dem ich aufwuchs, erst recht nicht. Sie wurde in der Schule nicht thematisiert, und ich wusste mit Glück, dass sie überhaupt existierte, seitdem ich beim Spielen am Bach unter der Brücke ein Magazin mit nackten Männern gefunden hatte und freudestrahlend meiner Mutter berichtet, dass es im Gegenstück zu den sexistischen Männer-Magazinen mit nackten Frauen (wie sie zum Beispiel im Wartezimmer unseres Zahnarztes auslagen) auch das Gegenstück für Frauen gab. Woraufhin meine Mutter mir erklärte, dass sich diese Hefte auch an ein männliches Publikum richteten. Was ich dann schulternzuckend und ziemlich beiläufig zur Kenntnis nahm und zugeben musste, dass mich die nackten Männer in dem Heft auch ziemlich kaltgelassen hatten.

Aber was ich über Homosexualität wusste, war, dass es etwas Skanalöses sein musste, etwas, über das man nicht sprach, etwas, das außerhalb des Dorfes unter der Brücke passierte, aber innerhalb meines Dorfes nicht existierte. Dass es mich selbst betraf, verstand ich noch nicht. Weder begriff ich, dass ich unsterblich in meine beste Freundin verliebt war, noch hatte ich ein Wort dafür, dass ich transgender bin. Ich wusste nur, ich bin anders als die anderen. Und dann kam Joel Cairo, und ich verstand, es gab da eine ganze Welt, von der ich noch nichts ahnte, eine Welt, die nur auf mich wartete. Und obwohl ich »Die Spur des Falken« beim ersten Schauen gar nicht so sehr gemocht hatte, ließen mich der Film, Joel Cairo und Peter Lorre als sein Darsteller nicht mehr los.

Ich lieh mir den dazugehörigen Roman aus der Stadtbücherei aus, wo das Buch aus dem Magazin geholt werden musste und nur in einer Übersertzung aus den 1950ern vorrätig war, die es mir nicht leicht machte, die Feinheiten zu verstehen. Als Cairo das erste Mal auftritt, sagt Spades Sekretärin Effie im Original: »The Guy is queer«. Die Übersetzung, die ich las, machte daraus »Der Kerl ist halbseiden«, ein Wort, mit dem ich wirklich nichts anfangen konnte. Erst später bekam ich die 1974 erschienene Fassung aus dem Diogenes-Verlag in die Hand, wo Effie deutlich verständlicher sagt: »Der Kerl ist schwul«. Und ich, immer noch sehr jung, immer noch sehr weit von einem Coming Out entfern, las das mit und fragte mich schockiert, ob man das so schreiben durfte, ob das nicht zu skandalös wäre für einen Roman, noch dazu einen so berühmten.

Meine Begriffstutzigkeit muss man mir nachsehen. Heute ist klar, dass sich Cairos Figur im Roman wirklich der plumpsten Schwulenklischees bedient, die man sich nur irgendwie vorstellen kann, von parfümürten Taschentüchern über zu weiche Hände bis hin zu der fisteligen Stimme, mit der er spricht. Nur, Schwulenklischees fielen bei mir auf tauben Boden – wenn Homosexualität überhaupt kein Thema ist, dann hat man es noch nicht mal mit Klischees zu tun, nur mit einem Vakuum. Und der Film von 1941, zu einer Zeit produziert, als der Hayes-Code vorschrieb, was in Hollywoodfilmen gezeigt wurde und was nicht (in letztere Kategorie fiel Homosexualität), musste sich auf Andeutungen reduzieren (sehr, sehr, sehr klare Andeutungen!) und das Kind niemals beim Namen nennen. So wird dort aus »The guy is queer« ein vielsagender Blick angesichts einer parfümierten Visitenkarte und die sehr provokante Art, mit der Peter Lorre seinen Gehstock liebkost.

Dass im »Malteserfalken« nicht nur Joel Cairo schwul ist und sein Love Interest Wilmer Cook, sondern auch der »Fat Man« Caspar Gutman, habe ich erst viele Jahre später einem Artikel über das Buch entnommen, selbst habe ich das weder bei der Lektüre des Romans, noch beim Schauen der Verfilmung verstanden – und jetzt, wo ich das Buch mit vielen Jahren Abstand nochmal lese, bin ich noch nicht an der Stelle angekommen, wo Gutman auftritt und kann daher noch nichts dazu sagen, wie deutlich oder nicht das vermittelt wird, wenn man zumindest weiß, wonach man schauen muss. Aber damals, 1989, packte mich eine Faszination für diese fremden Figuren, die so anders waren als alles, dem ich bis dahin begegnet war, und der schwarzweißen Welt, in der sie existieren durften, ohne versuchen zu müssen, normal zu sein.

Mein Vater versorgte mich mit weiterem Stoff. Ich fing an, amerikanische Krimis zu verschlingen, las den gesammelten Raymond Chandler, schaute alles an Film Noir, was das deutsche Fernsehen hergab, las Bücher über Filmgeschichte, die Biographien von Peter Lorre und Richard Burton, und entwickelte mich, weil ich keine halben Sachen mache, wenn ich von einem Thema besessen bin, zu einem echten Experten für den hartgesottenen amerikanischen Krimi und die Geschichte Hollywoods. Und das schlich sich dann auch in die Geschichten, die ich schrieb, ein. Den Krimis blieb ich treu, aber ich wagte etwas Neues. Ich schrieb den hartgesottensten aller hartgesottenen Kriminalromane: »Marlowe, Lime und Co.«.

Nein, das war keine Fanfiction – es war eine Parodie. Und ich warf alles in den Pott, das ich irgendwie bekommen konnte. Ich nahm Philip Marlowe, Chandlers Detektiv, ich nahm Harry Lime aus dem »Dritten Mann«, den ich gerade als Englischlektüre gelesen hatte – aber ich nahm auch ALF, den Außerirdischen aus dem Fernsehen, ich nahm Inspector Columbo, verpasste Derrick und Harry Klein einen Gastauftritt und baute auch noch Miss Marple als strickende Sekretärin ein. Nichts war vor mir sicher, und alles mir heilig. Die einzigen eigenen Figuren waren ein namenloser Ich-Erzähler von ausgesprochen beschränktem Auffassungsvermögen und eine ebenfalls anonym bleibende enigmatische Figur, die ein Amalgam typischer Lorre-Rollen darstellte. Und mit diesem Buch vollbrachte ich das Wunder: Ich schrieb es fertig. Fünfunddreißig maschinengeschriebene Seiten, das ist so viel nicht, aber es war das längste, was ich jemals abgeschlossen hatte. Und auch wenn meine Story wirklich hanebüchen war, war ich ekstatisch. Ich war Autorin. Ich hatte ein Buch geschrieben. Und jeder musste es lesen.

Fünfzehn Exemplare betrug meine erste Aufgabe, am Fotokopierer meiner Großeltern verfielfältigt, im Schnellhefter gebunden, und ich verkaufte sie für vier D-Mark das Stück an Lehrer und Mitschüler. So schnell war noch nie eine Auflage von mir ausverkauft, und ich bekam begeistertes, aufmunterndes Feedback, außer von meinen Großeltern, die mir das Exemplar, das ich ihnen als Dankeschön für das Nutzen ihres Kopierers geschenkt hatte, mit angestrichenen Rechtschreibfehlern zurückgaben. Aber ich hatte Blut geleckt. Ich wusste, meine Bestimmung war das Schreiben. Und wo es mit eigenständigen Figuren nicht funktionierte, entwickelte ich ein echtes Händchen für geborgte.

Um dem Hardboiled-Thema ebenso treu zu bleiben wie den Parodien, schrieb ich als nächstes »Der Löwe von Aleppo«, eine direkte Antwort auf »Die Spur des Falken«, und da ließ ich nicht nur joel Cairo auftreten und hatte damit, inzwischen war es 1991, die erste queere Figur in einer eigenen Geschichte – sondern baute auch mich persönlich in die Geschichte ein, und der Kontrast zwischen der Zehntklässnerin, die da unversehens nach San Franzisco entführt wird, und den noir-grauen Gestalten, denen sie da begegnet, war irgendwie cool und irgendwie peinlich. Aber da bin ich wie Hitchcock, immer für einen Gastauftritt in meinen Werken zu haben.

Und über diesen Parodien, über der Beschäftigung mit fremden Figuren, die ich ja so typisch wie möglich rüberbringen wollte, passierte etwas sehr interessantes mit meiner Schreibe: Ich lernte, Figuren zu charakterisieren, und ich verstand, dass ich sie mir auch selbst ausdenken konnte. Meine nächsten Versuche, Kriminalromane zu schreiben, scheiterten noch immer, aber nicht mehr daran, dass es meinen Ermittlern an Profil gefehlt hätte. Einzige Ausnahme davon bleibt »Alibi für einen Geist«, Rückfall in alte Zeiten, aber sowohl das Stümper-Team als auch Serienermittler Orion West waren allesamt schillernde Gestalten. Ich kann nur einfach keine Morde begehen, die man auch aufklären könnte, und das wird mich auf alle Zeiten heimsuchen.

Jetzt, fünfunddreißig Jahre nach meiner ersten Begegnung mit dem Film Noir und Joel Cairo, bin ich nicht nur selbst out and proud, sondern auch hauptberuflicher Schriftsteller. Ich will nicht behaupten, dass ich das alles nur der »Spur des Falken« verdanke. Aber es hatte sicherlich seinen Anteil daran. Und auch wenn ich niemals einen Krimi fertiggestellt habe – da sind die Parodien, die ich mit vierzehn, fünfzehn Jahren geschrieben habe, die einzigen Vertreter geblieben – bin ich dem Noir-Motiv treu geblieben. Nur habe ich es für meine Fantasyromane adaptiert.

Meine heißgeliebte, bis heute unveröffentlichte Gauklerinsel ist eine so direkte Antwort auf den »Malteserfalken«, wie ich sie seit dem »Löwen von Aleppo« nicht mehr geschrieben habe. Nicht nur habe ich, die Hauptfiguren eingeschlossen, keine einzige wirklich sympathische Figur in der Geschichte – ich sehe auch die deutlichen Parallelen zwischen den Gauklerinsel-Akteuren und den Maltesterfalken-Figuren. Ich weiß, dass Trosca eine ziemlich direkte Antwort auf Caspar Gutman ist und der Blonde das Pendant zu Wilmer Cook, dass Roashan mehr als nur eine Gemeinsamkeit mit Sam Spade hat und Shaun als toter Compagnon die undankbare Rolle von Miles Archer erfüllt, nur, diesweil er ein Geist ist, deutlich größere Handlungsanteil hat als Spades früh aus dem Leben geschiedener Partner.

Diese Parallelen sind wahrscheinlich nur für mich sichtbar. Ich denke nicht, dass irgendjemand, der die »Gauklerinsel« liest, dabei an Dashiell Hammett denken wird. Aber ich gebe das Genre mit »Noir-Fantasy« an, wegen der Ambivalenz der Figuren. Und das gleiche mache ich jetzt mit meiner »Traumstadt«. Da gibt es jetzt keine auch nur für mich offensichtlichen Parallelen zwischen meinen Figuren und Hammetts, aber die Stimmung ist sehr noir, die Leute pfeifen sich Drogen rein, wie sie in den Hardboiled-Romanen, der herrschenden Prohibition zum Trotz, mit Hochprozentigem gurgeln, und wirklich, an Kassim ist eine echte Femme Fatale verlorengegangen, und auch hier ist niemand wirklich gut und letztlich auch niemand wirklich böse und alles in Grauschattierungen. So mag ich das. Auch wenn das Ganze als »noir« bezeichnet wird, ist es doch das Gegenteil von Schwarzweißmalerei.

Jetzt bekomme ich Lust, mich als nächstes über die gesammelten Werke Raymond Chandlers zu lesen. Und dann zu schauen, ob ich alle meine Fantasyromane irgendwie unter den »Noir«-Descriptor bekomme. Es wäre toll für die Festigung meiner Marke, so einen roten Faden zu haben, der meine ganzen doch recht unterschiedlichen Romane unter einen Hut bringen könnte. Noir Fantasy. Irgendwie mag ich den Klang, auch heute noch.

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