Die wahrscheinlich früheste erhaltene Tonaufnahme von mir befindet sich am Ende eines Mixtapes, das mein Vater für mich aufgenommen hat, als ich drei oder vier Jahre alt war. Nach der Mischung aus Kinderliedern, Folk- und Protestsongs war ein noch ein bisschen Platz auf der Kassette, und mein Vater hat einen kleinen Dialog zwischen uns mit dem Mikrophon des Kassettenrekorders aufgenommen. Welches Lied auf der Kassette mein Lieblingslied ist, fragt er mich, und ich antworte mit beinahe entrüstetem Ernst: »Alle Lieder auf dieser Kassette sind meine Lieblingslieder!« Aber unter väterlichem Druck, genötigt, mir eins auszusuchen, sage ich dann doch, und ohne lange zu zögern: »Denn der Otto, denn der Otto, der ist Maurer« – immerhin ein Kinderlied, wenn auch ein ziemlich politisches, von Fredrik Vahle.
Die Kassetten – insgesamt sechs Stück hat mir mein Vater über die Jahre in den späten Siebzigern aufgenommen – habe ich bis heute, sie sind sogar der Grund, warum ich bis heute ein Kassettendeck an meiner Stereoanlage besitze, und ich finde immer noch, dass alle Lieder auf diesen Kassetten zurecht meine Lieblingslieder sind. Nur den Maurer Otto würde ich mir heute nicht mehr als Lieblings-Lieblingslied raussuchen. Da hat sich in den letzten fünfundvierzig Jahren mein Geschmack doch leicht verlagert.
Aber ich muss immer an diese Kassette, und diese Aussage darauf, denken, wenn man mich fragt, welches meiner Bücher mein Lieblingsbuch ist. Tatsächlich habe ich viele Lieblingsbücher – üblicherweise ist das Buch, an dem ich gerade arbeite, mein aktuelles Lieblingsbuch, sonst würde ich etwas anderes schreiben – aber wenn man dann ein bisschen nachbohrt, nenne ich, ohne zu zögern, einen konkreten Titel. Meistens fällt meine Wahl dann auf »Die Gauklerinsel« – dieses Buch hat wirklich einen ewigen Platz in meinem Herz, auch dreizehn Jahre, nachdem es fertiggeworden ist. Und meine tapfere Agentin und ich geben nicht auf, doch noch irgendwann einen Verlag dafür zu finden. Irgendwann ist die Zeit, und der Buchmarkt, reif für meine Gaukler. Irgendwann.
An der »Gauklerinsel« habe ich jahrelang gearbeitet, und als ich die letzten Sätze der Rohfassung geschrieben habe, so unglücklich war ich, dass ich nicht mehr länger daran weiterschreiben konnte. Seitdem habe ich das Buch mehrmals gründlich überarbeitet – da es noch nicht veröffentlicht ist, habe ich noch den Luxus, die aktuelle Fassung meinem jeweiligen Kenntnisstand anzupassen – und freue mich jedes Mal auf und über das Wiedersehen. Das war wirklich ein echtes Lieblingsbuch von mir. Und ich habe Jahre damit verbracht, nach einem Buch zu suchen, das ich genauso sehr lieben konnte. An dem ich viele, viele Jahre lang arbeiten konnte, immer wieder dorthin zurückkehren, und am Ende Abschiedstränen vergießen, wenn ich es fertig habe.
Versuche, ein neues Lieblingsbuch gezielt aus dem Boden zu schaffen, scheiterten – so etwas kann ich nicht planen, so etwas passiert, und ausgerechnet »Geistersaat« war auch wirklich keine gute Wahl dafür. Aber dann, Anfang 2016, passierte mir ein Buch, und ich ahnte, das ist es, das Buch, das ich so sehr lieben kann wie meine Gaukler. Es war überhaupt nicht geplant – was ich eigentlich wollte, war, eine Rollespielrunde aufzuziehen, nur mein Mann und ich, nach den Regeln des Schwarzen Auges, und ich baute mir einen extrem verkrachten Al’Anfaner Schwarzmagier, der bald gezwungen ist, der Stadt zu fliehen, nachdem er verdächtigt wird, den kleinen Jungen, dessen magischer Leibwächter er war, umgebracht zu haben – und nachdem wir das genau einmal gespielt hatte, schlief die Runde auch schon wieder ein. Übrig blieb Sandro, besagter Schwarzmagier. Und Sandro wollte, dass ich ein Buch über ihn schreibe.
Jetzt hätte ich mich hinsetzen können und einen DSA-Roman aus dem Stoff machen, aber daran hatte ich kein Interesse. Ich fühle mich in Aventurien als Setting nicht firm genug, und die DSA-Leserschaft ist berüchtigt dafür, extra-kritisch zu sein gegenüber allen Fehlern, geographisch, kulturell oder historisch, welche die Autor:innen da in ihren Romane gemacht haben könnten, und damit wollte ich mich wirklich nicht rumschlagen. Aber ich hatte noch nie ein Problem damit, eine ausrangierte Rollenspielfigur zu nehmen und in ein neues, eigenes Setting zu verpflanzen. Tatsächlich hat die »Gauklerinsel« genau so angefangen, als ich meine Charaktere aus dem Play-by-Mail-Rollenspiel »Dance of the Magpies« nahm und und, weil ich keine Rechte an dem ursprünglichen Setting hatte, eine völlig neue Insel für sie ersann. Und während Sandro hinter meiner Stirn rumorte, wollte, dass seine Geschichte weitergeht, begann ich im Hinterkopf mit dem Weltenbau.
Die »Gauklerinsel« spielt komplett auf dieser winzigen Insel, in ihrer einzigen Stadt und, zumindest stellenweise, im sie umgebenden Meer, und diese Beschränkung auf einen einzigen Schauplatz hatte sich sehr bewährt: Ich konnte auf meiner Insel spazierengehen, ich kannte jedes Wirtshaus und wusste, wie sich das Pflaster unter den Schuhen anfühlte, und ich wo ich bei der »Neraval-Sage« beim Aufbau eines ganzen Landes an meine Weltenbaugrenzen gestoßen bin, konnte ich mich hier, im Kleinen, perfekt austoben. Und so etwas schwebte mir auch für Sandro vor. Der Rollenspielcharakter hatte Al’Anfa noch am ersten (und einzigen) Spieltag verlassen, aber für das Buch über ihn wollte ich eine Stadt ausarbeiten, in der dann das ganze Buch spielen sollte.
Ich kenne nicht viele Fantasyromane, die auf so begrenztem Raum spielen. Brandon Sanderson, von dem ich zugeben muss, noch nie ein Buch gelesen zu haben, hat so etwas in seiner »Mistborn«-Serie gemacht, und von Roger Taylor (den ich im Gegensatz gelesen habe) spielt »Die Stadt der Kristalle« an einem einzigen Ort, aber viel mehr Beispiele fallen mir auch mit langem Nachdenken nicht ein. In Film und TV-Serie ist das deutlich verbreiteter, aber Fantasyromane sind üblicherweise geographisch breiter aufgestellt. Für mich hat sich das aber bewährt. Weltenbau im Kleinen kann ich, Städte erschaffen, die sich lebendig anfühlen – und in denen ihre Bewohner mal mehr, mal weniger freiwillig festsitzen,
für Sandros Geschichte ließ ich das aventurische Al’Anfa schnell hinter mir – ich wusste einfach zu wenig über diese Stadt, um sie auch nur klauen zu wollen. Was ich beibehielt, ist, dass mein Setting in einem Sumpf lag, dass es dort eine Magierakademie gibt, und dass ein paar rivalisierende Häuser über die Stadt herrschen. Und Drogen. Drogen spielen in meiner Stadt eine große Rolle, und ich meine, das gilt auch für Al’Anfa. Aber wo ich mich dann wirklich großzügig bediente, war das Hörspiel »Die Legende von Mythrâs«, Episode Sieben: »Die träumende Stadt«. Das durfte ich. An dieser Reihe, die nach nur zwei Teilen eingestellt wurde, hatte ich als Autorin mitgearbeitet, und die niemals produzierte Folge sieben stammte aus meiner Feder. Ich übernahm den Namen der Stadt, Katirea, wie auch die Tatsache, dass die Stadt in einem Traum gefangen war – und dann machte sich das Ganze selbständig.
Während unter der Plattform der auf Stelzen in den Sumpf gebauten Stadt die Slums zu wuchern begannen und sich oben die reiche Oberstadt nur durch Magie in der Luft hielt, war es Sandro, der mich mit Beschlag belegte. Sandro hatte sehr genaue Vorstellungen, was für ein Buch ich ihm auf den Leib schreiben sollte: eines, in dem er ganz viele Drogen nehmen und ganz viel Sex haben konnte. Und wo ich daran gewöhnt bin, dass sich meine Figuren dem Rausch hingeben, war mir die Vehemenz, mit der Sandro nach Sex verlangte, neu. Ich schreibe üblicherweise keine Sexszenen. Meine letzten Versuche waren 2001/02 für die »Chroniken der Elomaran« entstanden, und selbst da hatte ich doch tendenziell abgeblendet, wenn es zur Sache ging. Dezenz angedeutet, finde ich das doch viel erotischer – aber Sandro genügte das nicht, Sandro wollte expliziten Sex. Da half nur eins: Ich legte das Projekt wieder auf Eis.
Es war Februar 2016, und ich nahm mir vor, das Buch nicht vor dem Nanowrimo jenes Jahres zu schreiben. Bis November, so meine Hoffnung, sollte sich Sandros Wollust hinreichend abgekühlt haben, und er hinreichend zermürbt sein, um sich mit etwas angedeutetem zufriedenzugeben. Ich selbst hatte vorher noch andere Bücher zu schreiben, hatte ich doch gerade meine »Spiegel von Kettlewood Hall« an Knaur verkauft und fand mich erstmalig im Leben in der Situatiuon, ein Buch auf Kommando fertigschreiben zu müssen (ergänzend zu »Das Buch, an dem ich gerade schreibe, ist immer mein Lieblingsbuch« muss ich sagen: Das gilt nicht, wenn das Buch bereits verkauft ist. Dann ist alles ganz, ganz schrecklich, und ich leide mit jeder Seite, die bis zur Deadline fertig werden muss. Ich schreibe immer am liebsten Bücher, die außer mir noch niemand haben will). So übte ich mich in Geduld, schrieb an »Kettlewood«, und als der November dann da war, fing ich mit meinem inzwischen »Libellenträume« genannten Buch nochmal bei Null an.
Noch nie zuvor, und nie wieder danach, habe ich in einem Monat so viel an einem einzigen Buch geschrieben. Genau 66.666 Wörter waren es am 30. November, und ich liebte jedes einzelne davon. Da war es, mein neues Lieblingsbuch. Und als der Nanowrimo rum war, stand ich da, hin und hergerissen zwischen »weiterschreiben, bis ich fertig bin« und »ganz viele Jahre Spaß mit dem Buch haben«. Und weil ich hoffte, endlich meinen »Gauklerinsel«-Nachfolger gefunden zu haben, entschied ich mich für letzteres. Ich sollte die Entscheidung nicht bereuen. Die nächsten Jahre über holte ich immer mal wieder dieses Buch nach oben, schrieb ein paar Wochen lang wie im Fieber daran, und wandte mich dann wieder anderen Sachen zu.
So entstand, schubweise, ein Buch, das ich für eine der besten Sachen hielt, die ich jemals geschrieben hatte – und für mit den härtesten Tobak. Nicht, weil das Buch dann doch so viel Sex gehabt hätte, ehrlich, es ist, was das angeht, ziemlich zahm, auch wenn Sandro echt oft Sex hat, aber wegen der Drogen, die sich durch die ganze Handlung ziehen, wegen der Art, wie Kinder in der Geschichte behandelt werden, und weil sich mein schönes Sumpfstadt-Setting zu einem ziemlich grimmen Ort, an dem man nicht wirklich leben möchte, gewandelt hat. Dafür, dass Katirea in einem Traum liegt, gibt es dort nicht viel, was man als traumhaft bezeichnen würde. Es geht um Alpträume, um schwarze Magie – und dazu kam, dass Sandro es einem nicht leicht macht, ihn gernzuhaben.
Er ist doch ein ziemlicher Antiheld geworden. Nicht nur wegen der Drogen, und auch nicht wegen des Sex – sondern weil er, namentlich am Anfang der Geschichte, bereit ist, alles seiner Karriere zu opfern, Liebe und Familie inklusive, und es gut fünfhundert Normseiten dauert, bis er sein Gewissen entdeckt. Und selbst dann mag er es nicht wirklich benutzen. Das ist schon in Ordnung. Meine Protagonisten müssen keine Helden sein, sie dürfen grauschattiert sein und keine Sonnenscheinchen. Roashan in der »Gauklerinsel« ist auch ein ziemlicher Antiheld, und ich liebe ihn trotzdem heiß und innig – und genauso ging es mir mit Sandro. Nur was am Ende die Leserschaft dazu sagen würde, das wusste ich nicht.
Die Jahre gingen ins Land, die Geschichte wuchs, und dann zeichneten sich zwei Dinge ab. Das erste: Ich würde mit einem Band nicht hinkommen. Das zweite: Ich brauchte einen neuen Titel. So lang arbeitete ich schon an dem Buch, dass inzwischen eine andere Autorin meinen schönen Titel »Libellenträume« in Benutzung genommen hatte, und wer zuerst kommt, mahlt zuerst. So kehrte ich wieder zurück zu »Die Traumstadt«, dem Arbeitstitel, mit dem alles angefangen hatte. Diesen Titel liebte ich nicht so sehr wie den anderen, aber immerhin hatte das Buch wieder einen Namen. Dafür hatte ich etwas anderes nicht mehr: Plot. Ab irgendwann Anfang 2020 lag das Buch brach, und auch wenn ich mir vorgenommen hatte, irgendwann wieder dran zu arbeiten, hatten andere Sachen höhere Priorität. Mir sollte das recht sein. Ich wollte schließlich viele Jahre Spaß an dem Buch haben – nur, wie viel Spaß hat man an einem Buch, an dem man nicht arbeitet?
Für 2024 nahm ich mir darum etwas anderes vor: Die »Traumstadt« fertigschreiben und, wo ich gerade dabei war, anbieten. Der Markt für Fantasymehrteiler ist zur Zeit schwer. Für eine Tetralogie, wie meine »Neunte Träne«, bekomme ich derzeit keinen Verlag, und was noch mehr ist, da habe ich mich gerade in eine Sackgasse manövriert. Aber eine Duologie, das sollte funktionieren. Acht Jahre, seit ich mit der Arbeit an der »Traumstadt« angefangen hatte, sollten genug sein. Zeit, dieses Buch fertigzumachen und freizulassen. So setzte ich mich hin und machte mich an die Sachen, die ich sonst immer vor mir her schiebe: Intensives Plotten, um aus meinem Plotloch rauszukommen. Ein Exposé aufsetzen. Und das Ganze auf zwei Bände aufzuteilen.
Ich fand den perfekten Cut für das Ende des ersten Teils. Ich zerschnitt die zu langen Kapitel in handlichere kürzere. Ich begann, die 2016 entstandenen ersten hundert Seiten zu überarbeiten, um eine gut lesbare, meinen aktuellen Fähigkeiten entsprechende Leseprobe zu haben. Vor allem aber las ich nochmal alles, was ich über die Jahre geschrieben hatte – und da war sie wieder, diese Liebe zu dem Buch, das ich ohne zu zögern als Lieblingsbuch bezeichnen möchte. Und da bin ich jetzt. Seit Anfang des Jahres habe ich schon wieder über 45.000 Wörter an diesem Buch geschrieben, bin halb fertig mit dem zweiten Band, und habe nicht vor, damit wieder aufzuhören, bevor ich fertig bin.
Acht tolle Jahre mit einem tollen Buch. Und wenn ich es fertig habe – dann werde ich weinen. Vor
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