Stehenbleiben

Manchmal ist es leichter, weiterzulaufen als stehenzubleiben. Im letzten Jahr, am ersten Januar, fing ich an zu laufen. Nicht mit meinen Füßen, nicht draußen – ich wünschte, ich könnte endlich meine Probleme, das Haus zu verlassen und mich zu bewegen, überwinden, aber noch ist es leider nicht so weit – aber beim Schreiben. Ich setzte mir ein Ziel, wie ich in dem Jahr zu schreiben gedachte, und jeden Tag, den ich 1/365 dieses Jahreszieles schaffte, zählte für meinen Lauf. Meine Hoffnung war, den Lauf so lang wie möglich durchzuhalten, um endlich, zum ersten Mal seit nicht weniger als zwölf Jahren, mein Ziel auch zu erreichen.

Anfangs fiel es mir schwer. Ich war aus der Übung, hatte in den vergangenen Jahren nur wenig, zu wenig, geschrieben, und musste erst einmal wieder in Übung kommen. Aber ich biss mich durch, lief tapfer jeden Tag mein Pensum, und als das Frühjahr kam, hatte ich mich eingegroovt. Ich lief durch das ganze Jahr, und was eine Stütze gewesen war, wurde zum Selbszeck. Mein Lauf half mir, zum ersten Mal seit Ewigkeiten tatsächlich mein ehrgeizig gestecktes Jahresziel zu erreichen, und, weil ich einfach nicht zu laufen aufhören wollte, bei weitem zu übertreffen.

Ich lief, egal was sonst auch passieren mochte. Während der Filkconvention saß ich jeden Tag, so sehr ich die Gesellschaft der anderen Musiker auch genoss, ein Stünchen auf meinem Zimmer und schrieb. Und als ich nach meiner Rückkehr drei Tage lang mit Covid flachlag, war ich froh, dass es doch nur ein verhältnismäßig milder Verlauf war, denn ich schrieb und lief auch damit weiter. Längst war mein Lauf mein ganzer Stolz, das, was mich aufrecht hielt und mich abends zufrieden ins Bett gehen ließ. Aber der Lauf hatte auch eine Schattenseite: ich wusste nicht mehr, wie ich aufhören sollte. Ein Ende des Laufes, fürchtete ich, würde bedeuten, in die finsteren Jahre zurückgeworfen zu werden, in denen ich kaum geschrieben habe – als ob ein einziger schreibfreier Tag gleichbedeutend mit dem Verlust allen Antriebs sein würde.

2023 wurde ein Jahr, auf das ich wirklich stolz sein kann. Nicht weniger als vier Romane habe ich in dem Jahr fertiggestellt, nur knapp die 700.000 Wort-Marke verfehlt, wo ich eigentlich schon 500.000 für schwer zu erreichen hielt, und gelaufen bin ich vom ersten Tag bis zum letzten. Und dann kam 2024, und ich machte da weiter, wo ich aufgehört hatte. Mein Jahresziel waren die gleichen 500.000 Wörter – höher wollte ich es nicht ansetzen, weil damit auch das Tagesziel hochgegangen wäre, und ich wusste, die 1.370 Wörter, oder 1.366 im Schaltjahr, die ich als Dreihundfünfundsechzigstel des Jahresziels ergeben, stellt an vielen Tagen meine Schmerzgrenze dar. Ich wusste, 2023 würde schwer zu überbieten sein – aber 2024 bot mir eine Möglichkeit dazu: Im Schaltjahr kann ich nicht nur 365, sondern sogar 366 Tage lang laufen, und das strebte ich auch an.

Aber zu diesem Zeitpunkt war auch anderen aufgefallen, dass mein langer Lauf nicht nur Sonnenseiten hatte, und sie fingen an, sich um mich zu sorgen. Jeder Mensch braucht freie Tage, und betrieb ich keinen Raubbau an meiner Gesundheit, mir keine Pausen zu gönnen? Ich horchte in mich hinein, und ich fand am Ende an meinem Lauf mehr Positives als Negatives, ich konnte mehr Kraft daraus schöpfen, als ich hineinstecken musste, und so wollte ich leben als Berufsautor, der am Wochenende seinem Hobby, dem Schreiben, nachgeht: Aber ich machte allen, die dieser Argumentation nicht folgen wollten, ein Versprechen – im Zweifelsfall auf meinen Körper zu hören.

Ich durchlebte einen höchst erfolgreichen Januar. Dank des Warmschreibens, meiner Lieblingschallenge aus dem T12 im Tintenzirkel, bei dem ich jeden Tag ein klein bisschen mehr schreibe als am Tag davor, kam ich mit einem satten Plus an Wörtern aus dem Monat raus. Ich schrieb fleißig an »Himmelsgrund«, dem sechsten Elomaran-Buch, so lange, bis mich da der Plot ein bisschen verließ, und als das passierte, grämte ich mich nicht: Da hatte ich beschlossen, dass in diesem Jahr meine »Traumstadt« fertig werden sollte, damit meine Agentin das Buch in Frankfurt anbieten kann, und nachdem dieses Buch drei oder vier Jahre lang brachgelegen hatte, ging ich mit neuen Ideen und neuem Plot ans Werk.

Ich da war sie wieder, die Liebe zu diesem Buch, das für mich ein Herzensprojekt in der Tradition der »Gauklerinsel« darstellt: Ein Lieblingsbuch, an dem ich viele, viele Jahre lang arbeiten kann und bei dem ich weinen werde, wenn es fertig ist. Aber an der »Traumstadt« arbeite ich jetzt auch schon seit bald acht Jahren, und dann, habe ich beschlossen, darf das Buch auch einmal fertig werden. Ich hänge an Sandro und seinen Abenteuern, ich lasse ihn gerne seine Drogen nehmen und durch den Traum stolpern – und ich hatte endlich eine Idee, wie es da weitergehen könnte, wo ich in Vor-Covid-Zeiten aufgehört hatte.

Ich las noch einmal alles, und das war eine Menge Text – das Buch wird auf jeden Fall ein Zweiteiler, aber ich weiß noch nicht, wo der erste Band endet und wo der zweite Band anfängt, und ich will beide Bände fertig haben, ehe ich das Buch anbiete, damit ich nicht gezwungen sein werde, das Ganze unter Zeitdruck fertigzuschreiben und auch, damit im Zweifelsfall die Teile Eins und Zwei in kurzer Abfolge erscheinen können: Einer der Gründe des Misserfolgs der »Neraval-Sage« liegt sicher darin, dass zwischen der Veröffentlichung der Teile zu viel Zeit vergangen ist; ich bin kein George R.R. Martin oder Patrick Rothfuss, der sich das erlauben kann, und die Lesegewohnheiten haben sich dahingehend geändert, dass die Leute nicht mehr ein Jahr lang warten wollen, um einen Mehrteiler zu Ende zu lesen.

Also, die »Traumstadt« wird dieses Jahr fertig, und das noch im Sommer, damit ich die Möglichkeit habe, noch alles zu überarbeiten, eh das Ganze auf die Buchmesse mitfährt. Das ist ein stabiles Ziel, aber ich bin ein routinerter Dauerläufer, ich habe genug lose Enden, um mich an ihnen entlangzuhangeln, und wenn ich mal einen Durchhänger habe, sollte mir ein Stündchen konzentriertes Plotten helfen, darüber hinwegzukommen – und so ging der Januar, und der Februar begann, und dann passierte etwas, das ich nicht eingeplant hatte. Ich wurde krank.

Erst waren es nur leichte Halsschmerzen, und ich dachte mir nicht viel dabei. So ein bisschen erkältet bin ich öfter mal, und um diese Jahreszeit ist ein bisschen Schnupfen auch kein Problem. Zwei Tage lang ließen die Halsschmerzen nach dem Frühstücken nach. Aber am vierten Februar wurden die Halsschmerzen stärker, und sie hielten an. Dazu kam, dass ich heftige allergische Reaktionen auf den Pollenflug der Frühblüher hatte – meine Augen waren rot, die Lider nässten, das Immunsystem ging in die Knie, und genau da hinein grätschte ein grippaler Infekt. Im Lauf des Tages kam auch noch Fieber da, und da half nichts mehr, als den Tatsachen ins Auge zu schauen: Es hatte mich erwischt.

Ich wollte tapfer sein und durchhalten. Letztes Jahr, mit Covid, war es mir noch schlechter gegangen, und ich hatte trotzdem geschrieben. Aber da hatte ich vorbereiteten Plot in der Hinterhand, den ich nur runterschreiben musste. Schreiben, wenn man krank ist, ist eine Sache. Aber was ich dann nicht kann, ist plotten. Der zugeschwollene Schädel bringt keine neuen Gedanken mehr zustande. Und ausgerechnet da war ich in meiner »Traumstadt« in einem Plotloch angekommen, das nach einer intensiven Auseinandersetzung verlangte – etwas, das ich gerade nicht mehr stemmen konnte. Und statt dessen an etwas anderem weiterschreiben? Ich hatte nichts. Keine Ideen. Volle Nebenhöhlen mit leerem Gehirn. Und wenn ich versprochen hatte, auf meinen Körper zu hören, war jetzt der Tag gekommen, genau das zu tun.

Ich wollte nicht. Ich lief seit 399 Tagen – ich wollte nicht ausgerechnet am vierhundersten Tag aufhören. Nein – ich wollte überhaupt nicht aufhören. So viel von dem Jahr noch übrig, von diesem kostbaren Schaltjahr, das mir den längstmöglichen Lauf versprochen hatte. Ich bockte und sträubte mich, ich wollte nicht anhalten, nicht alles verlieren, was ich mir in über einem Jahr aufgebaut hatte, aber er ging nicht anders. Ich bat meinen Mann und die T12er im Tintenzirkel, mich aufzufangen, ich wusste, allein würde ich es nicht schaffen, einfach so stehenzubleiben – und sie waren für mich da, und sie fingen mich auf, und da bin ich nun. Mein Lauf ist vorbei.

Dass ich laufen kann, habe ich bereits bewiesen. Jetzt habe ich mich der nächsten großen Herausforderung gestellt: Anhalten. Gesundwerden. Und dann – weiterschreiben. Die Laufliste im T12 ist nämlich ein verzeihendes Ding. Wenn ein Lauf endet, kann jederzeit ein neuer begonnen werden. Man fängt dann eben wieder bei Null an, oder zumindest bei Eins. Einen Lauf von 366 Tagen kann ich damit in diesem Jahr nicht mehr schaffen, aber trotzdem noch ziemlich weit kommen. Ich trauere um meinen langen Lauf, um die so knapp verfehlte Vierhundertermarke, aber ich lebe noch. Und, wenn ich so in mich hineinhorche, habe ich das Ende des Laufes besser verkraftet als befürchtet.

Ich lebe noch. Und ich schreibe wieder. Das Fieber hat am zweiten Tag nachgelassen. Ich kann geradeaus denken, ich kann Sandro aus dem Plotloch holen, und ich kann Spaß haben. Das ist das wichtigste. Der Spaß am Schreiben ist nicht weg, nur weil ich einen Tag Pause eingelegt habe, und der Drang zu schreiben ist auch noch da. So, wie ich auch im Nanowrimo das Verlieren erst nach dem Gewiunnen gelernt habe, habe ich jetzt das Stehenbleiben nach dem Laufen gelernt. Das heißt nicht, das ich jetzt leichtherzig verliere oder nicht versuchen werde, den neu begonnenen Lauf so lang wie irgendwie möglich am Laufen zu halten. Aber es ist genau das: So lang wie irgendwie möglich. Und wenn es nicht möglich ist, dann geht es eben nicht mehr. Dann muss man einfach stehenbleiben, durchatmen und dann, mit neuer Kraft, wieder loslaufen.

Halte ich durch bis zum Ende des Jahres? Ich habe es vor. Aber der Druck ist ein wenig raus. Es ist kein »ich muss das jetzt«, es ist ein »Schaun’mer mal« geworden. Und vielleicht kann ich aus diesem Ärgernis doch noch etwas Positives mitnehmen.

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