Noch im Dezember habe ich mich darüber ausgelassen, wie ich als früher leidenschaftlicher Bücherfresser aus dem Lesen rausgerutscht bin – jetzt, wenige Wochen später, hat es mich zurück. Ich bin an das Lesen rangegangen mit der gleichen eisernen Disziplin, mit der ich seit Anfang letzten Jahres schreibe – jeden Tag, egal was sonst noch passiert sein mag, greife ich zu meinem Buch und lese. Das absolute Minimum sind fünfundzwanzig Seiten, und normalerweise höre ich nicht auf, bevor ich fünfzig Seiten gelesen habe. Und an den ersten Tagen hat sich das wirklich sehr nach Arbeit angefühlt.
Das Lesen fiel mir so viel schwerer als früher, ich konnte mich schlecht darauf konzentrieren, nicht gut bei der Sache bleiben, und wo ich früher bis zu drei Bücher an einem Tag gelesen hatte, kam es mir so vor, als würde ich jetzt für meine täglichen fünfzig Seiten so lange brauchen wie früher für ein ganzes Buch. Dazu kam, dass ich mir zum Wiedereinstieg vielleicht das falsche Buch ausgesucht hatte. »The Gilded Crown« von Marianne Gordon war dann doch ganz anders, als der Klappentext mich hatte glauben lassen – ich hatte auf eine düster-makabre Romanze gehofft, stattdessen geriet ich an ein Buch, das mich einmal von innen nach außen krempelte und mich aufgewühlt und zornig zurückließ – und nach Jahren, in denen ich praktisch kein Buch gelesen hatte, war dieses Gefühl zu viel für mich.
Ich bin daran gewöhnt, dass meine eigenen Geschichten das mit mir machen, mich bewegen und druchschütteln, mich lieben und hassen lassen, aber bei meinen eigenen Geschichten habe ich die Kontrolle – ich schreibe keine Plotwendungen, mit denen ich nicht einverstanden bin, und wenn ich an eine Weggabelung in der Geschichte gerate, spiele ich zwar im Kopf manchmal auch Variantionen durch, die ich so nicht mag, aber ich schreibe sie nicht. Als Leser habe ich diese Kontrolle nicht, und das Gefühl, das sich daraus ergab, war das von zorniger Hilflosigkeit. Ich wusste nicht, wen ich da mehr packen und schütteln wollte – die Figuren in dem Buch, oder die Autorin, die sie so hatte handeln lassen: So oder so, ich hatte keine Macht über dieses Buch, und dieses Buch hatte Macht über mich, und die Mischung machte mich nicht glücklich.
An der Stelle musste ich ein bisschen in mich gehen und mir die eine Frage stellen, die ich mir vielleicht schon vor dreißig, vierzig Jahren hätte stellen sollen, die aber jetzt wirklich dringend geworden war: Warum will ich überhaupt lesen? Was will ich, das ein Buch mir geben soll? Und hat ein Buch etwas, das andere Medien – Filme, Fernsehserien, Computerspiele – nicht haben? Es gelang mir nicht, diese Frage zu beantworten. Auf der einen Seite, klar, wollte ich unterhalten werden. Das ist sowas wie die unterste Ebene des Lesens, die Einstiegshürde – Ich kenne niemanden, der nicht auf die eine oder andere Weise Unterhaltung sucht. Niemand nimmt ein Buch in Angriff in der Absicht, dass es ihn oder sie langweilen sollte.
Aber wenn es nur darum geht, kann ich mir genauso gut einen Film reinpfeifen und bekomme die gleiche Menge an Handlung in zwei Stunden verkimmelt, für die ich an einem Buch eine Woche lang lese. Lesen ist Arbeit, und das sollte ein Buch schon wert sein – das Buch braucht einen Mehrwert gegenüber leichter zu konsumierenden Medien. Für mich ist das die Freude an schöner Sprache, ich mag der Erzählstimme zuhören und mir den Klang in meinem Ohr vorstellen. Aber in diesen ersten Tagen, die ich mich durch »The Gilded Crown« arbeitete, war die Stimme in meinem Ohr stumm. Das Buch war gut geschrieben, daran lag es nicht, aber ich hatte einen wichtigen Teil meines Lesens noch nicht wiedergefunden. Er sollte bis Ende Januar dauern, bis die Stimme wieder da war, und bis dahin blieb das Gefühl, das mir etwas fehlte.
Aber will ich, das mich Bücher aufwühlen und bewegen? Nach »The Gilded Crown« war ich drauf und dran, dazu Nein zu sagen. Ich fühlte mich roh und wund – genau wie ein ungeübter Sportler, der zum ersten Mal seit drei Jahren wieder ins Fitnessstudio geht, hatte ich vom Lesen einen Muskelkater bekommen, und das war nicht das, was ich mir erhofft hatte. Da wäre ich besser mit einem kuscheligen Landhauskrimi eingestiegen, mit einem Buch, das mir genau das gibt, was ich erwartet habe, das mich unterhalten kann, ohne mir wehzutun. Etwas, das einen Bogen um meine Gefühle macht und nur meinen Verstand anspricht, etwas zum Miträtseln vielleicht, das Buch als Puzzlespiel: Aber ich hatte mich durch ein Buch durchgearbeitet, das sich eher an erfahrene Leser richtete, und ich musste es ausbaden.
Ich badete es aus, in dem ich eine Rezension schrieb. Von 2006 bis 2011 hatte ich ein eigenes Rezensionsblog geführt, Bibliophilis, und als ich dann Ende 2011 das Rezensieren dran gab, war das de fakto auch das Ende meines Lesens. Das Blog blieb online mit mehreren Dutzend ebenso ausführlichen wie persönlichen Rezensionen, auf die ich sehr stolz war, aber ich pflegte es nicht mehr, bis es sich irgendwann nicht einmal mehr aufrufen ließ, weil die Blogsoftware zerschossen war. Aber jetzt, mehr als zwölf Jahre nach meiner letzten Rezension, beschloss ich, das Blog neu aufleben zu lassen, auch wenn ich es mithilfe des Webarchivs rekonstruieren musste. Mit aktualisiertem Design, das aber noch hinreichend an das Alte erinnerte, ging Bibliphilis also wieder online.
Aber ich stand vor einem moralischen Dilemma. Auf der einen Seite wollte ich schrecklich gern wieder lesen – auf der anderen wusste ich, ich brauche die Aussicht, das Ergebnis rezesnieren zu dürfen, um auch dann bis zum Ende durchzuhalten, wenn mich ein Buch weder packen noch begeistern kann. Nur – darf ich das auch? Bücher rezensieren? Vor zwölf Jahren war die Antwort einfach: Ja, klar, natürlich. Doch jetzt bin ich ein veröffentlichter Autor. Und das heißt, meine Bücher befinden sich in einer Konkurrenzsituation mit dem, was sonst so am Markt erhältlich ist. Wir buhlen um die gleichen Leser:innen. Und wo eine positive Rezension kein Problem ist und sich jeder über ein Lob vom Kollegen freut, sieht das anders aus, wenn die Rezension negativ ausfällt.
Ich will nicht dastehen als jemand, der die Konkurrenz schlechtmacht, um selbst mehr Bücher zu verkaufen. Das ist natürlich nicht die Absicht hinter meinen Rezensionen, aber ich kann gepfeffert verreißen, und ich möchte nicht, dass das so gelesen wird, als würde ich über meine literarischen Rivalen vom Leder ziehen. Aber dann habe ich mir angeschaut, was ich lese und was ich rezensiere, und ich denke nicht, dass ich damit ein Problem bekommen werde. Bibliophilis war nie ein Blog, in dem es um aktuelle Bestseller geht. Die Bücher, die ich mir rauspicke, sind obskur – Titel, die nie auf Deutsch erscheinen werden oder Bücher, die schon viele Jahre alt sind. Ich habe keine Probleme, ein buch von 2010 zu verreißen – so das überhaupt noch lieferbar ist, sind dessen Verkaufszahlen inzwischen erwartungsgemäß so gering, dass es auf eine negative Rezension mehr oder weniger auch nicht mehr ankommt.
Und so gehe ich jetzt wieder an meine Rezis ran, und ans Lesen. Ich will mehr aktuelle Titel lesen – es ist ja durchaus wichtig, als Autor einen Blick drauf zu haben, was der Markt gerade macht, und nachdem ich mich da jahrelang auf Vorschauen und Klappentexte beschränkt habe, will ich jetzt also wieder ganze Bücher lesen. Aber einen aktuellen Titel von deutschsprachigen Autor:innen, insbesondere von anderen Tintenzirklern, werde ich nur dann rezensieren, wenn er mir auch gefällt. Mag ich das Buch nicht, breite ich den Mantel des Schweigens drüber. Aber je älter und obskurer ein Buch ist, desto weniger muss ich mich beim Rezensieren selbst zensieren.
Seit Anfang des Jahres habe ich sieben Bücher gelesen und auch alle rezensiert. Und zumindest das Rezensieren hat mir Spaß gemacht. Es bereitet mir Freude, meine Argumente für und wider ein Buch zusammenzustellen, zu gewichten und in eine logische Abfolge zu bringen, und wo ich das Lesen über die Jahre beinahe verlernt hatte, war das Rezensieren gleich wieder da. Aber ist auch das Lesen eine Freude? Tendenziell … nicht immer. Zwei der Bücher, die ich jetzt gelesen habe, konnten mich überhaupt nicht begeistern. Entsprechend kritisch sind dann auch meine Rezensionen ausgefallen – da es sich um jahrealte Kamellen handelt, das jüngere der beiden Bücher ist vor über sieben Jahren erschienen, und das nie auf Deutsch, habe ich mir erlaubt, sie zu verreißen, und das wertet für mich dann auch die Zeit, die ich ins Lesen investiert habe, wieder auf.
Aber so erfrischend es ist, einen beherzten Verriss zu schreiben: Lieber hätte ich bessere Bücher gelesen, Bücher, die mich beglücken und verzücken, und mit denen das Lesen selbst zur nackten Freude wird. So habe ich mich, das war die positive Überraschung des bisherigen Lesejahres, wieder in Geraldine Harris‘ »Sieben Zitadellen«-Zyklus verliebt, trotz handwerklicher Schwächen – diese mehr als vierzig Jahre alten Bücher sind besser gealtert, als ich befürchtet hatte, der Weltenbau entschädigt für vieles, die Figuren sind mir ans Herz gewachsen wie vor dreißig Jahren. Ich wünschte, das Lesen wäre immer so.
Dazu kommt, dass ich mir zu viel Druck mache. Ich habe Angst, nicht mehr lang genug zu leben, um alle Bücher zu lesen, die ich lesen will, und mache mir Vorwürfe, so viel gute Lesezeit, die ich doch gebraucht hätte, vergeudet zu haben. Ich vermute, das ist es, was man mit FOMO – Fear Of Missing Out – gemeint ist. Jahrelang habe ich Bücher gekauft, ohne sie zu lesen: Jetzt stehe ich vor pickepackevollen Regalen und frage mich, wie ich das alles schaffen soll, und dazu kommen noch so viele andere Bücher, die ich unbedingt haben will und die dann natürlich auch noch alle gelesen werden wollen …
Einfach ist es also nicht. Aber ich lese wieder. Und mit jedem Tag genieße ich den Prozess mehr, fühlt er sich weniger an wie Arbeit. Die Frage, was ein Buch mit mir machen sollte, kann ich immer noch nicht wieder eindeutig beantworten. Aber ich weiß, was ich mit einem Buch machen will. Ich will es lieben dürfen, nicht mehr und nicht weniger. Und ich denke, das ist schon mal gar kein so schlechter Ansatz.
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