Im Jahr 2010 rief ich im Tintenzirkel ein Großprojekt ins Leben: Den T12, mit T wie Tintenzirkel und 12 für die zwölf Monate des Jahres. Zu dem Zeitpunkt hatte ich bereits viermal den Nanowrimo mitgeschrieben und dreimal gewonnen, ich hatte den Tinowrimo eingeführt, um auch in anderen Monaten mit einem Wörterziel zu schreiben, und der T12 war die logische Schlussfolgerung daraus, Ganzjahreskampfschreiben mit einem möglichst ehrgeizig gesteckten Ziel fürs ganze Jahr. Im ersten Jahr wagte ich mich an 400.000 Wörter heran, mehr als ich jemals in einem Jahr geschrieben hatte, und erreichte mein Ziel auch prompt, sogar um zehntausend Wörter erweitert, die ich mir im Andenken an ein verstorbenes Teammitglied auferlegt hatte – es stellte sich zwar heraus, dass die vermeintlich von uns gegangene doch noch am Leben war, doch das erweiterte Jahresziel wollte ich trotzdem durchziehen und tat es.
Im Jahr drauf, 2011, legte ich noch eine Schüppe drauf – wenn ich 400.000 Wörter schreiben konnte, dann konnte ich auch 500.000 schaffen, ich musste mich nur entsprechend anstrengen. Und obwohl ich damals noch als Bibliothekarin arbeitete, gesundheitlich angeschlagen war und ziemlich heftige Medikamente nahm, schaffte ich es. Zwar mit Ach und Krach, aber es gelang mir, meinen Rückstand aufzuarbeiten und heldenhaft Ende Dezember die Zielgerade zu überschreiten. Und damit war der Beweis geführt, dass ich es konnte, und ich hatte keine Argumente mehr, jemals wieder ein niedrigeres Ziel zu wählen – vor allem, weil meine Bibliotheksstelle im Herbst 2011 ausgelaufen war, ich mich Vollzeitautorin nannte und auch entsprechende Wortzahlen abliefern wollte.
Aber ich kam auf keinen grünen Zweig mehr. In jedem Jahr ab 2012 setzte ich mir die halbe Million als Jahresziel, und in jedem Jahr scheiterte ich deutlich. Da halfen auch keine Nanowrimos mehr, die ich mit Ausnahmen von 2013 und 2015 jedes Jahr gewann, zum Teil sogar doppelt – ein einziger wirklich produktiver Monat gleicht nicht ein unproduktives Jahr aus, und meistens war ich spätestens ab März im Vergleich zu meinem Ziel ins Hintertreffen geraten. Ich musste mich fragen, ob ich auf dem richtigen Weg war, ob ich nicht mit einem kleineren Ziel besser bedient gewesen wäre – aber ganz ehrlich, ein kleineres Ziel hätte ich ebenso verfehlt, und da scheiterte ich doch lieber an etwas Großem.
Es wurde der Runninggag des T12: Maja setzt sich das höchste Ziel des ganzen Teams und schafft es nicht. Und meistens bedeutete das auch, dass ich mich in der zweiten Jahreshälfte kaum noch im t12-Board blicken ließ, die täglichen Statistiken liegenblieben und der Spaß aller anderen unter mir zu leiden hatte. Was mir wirklich leid tat, aber leider neige ich zum Weglaufen, wenn etwas nicht funktioniert, und ich und das Ganzjahreskampfschreiben, das funktionierte nicht. Ich schrieb im Nanowrimo, im Januar und Februar, und meistens erschöpfte es sich damit auch – und trotzdem, wenn ein neues Jahr kam, versuchte ich es trotzig wieder. Und immer mit diesem längst illusorischen Ziel: 500.000 Wörter.
Und dann kam 2023. Ich ging optimistisch an die Sache ran, erklärte die Jahreszahl zu meiner Glückszahl, immerhin bin ich an einem Dreiundzwanzigsten geboren, und startete mit einem wirklich guten ersten Quartal, das mich hoffnungsvoll stimmte. Und weil es mir in diesem Jahr auch gelungen ist, den guten Vorsatz »wieder regelmäßig bloggen« in die Tat umzusetzen, habe ich über meine Fortschritte im T12 auch schon das eine oder andere Mal gebloggt. Die Berichte ähnelten sich alle sehr: Jedes Mal konnte ich vermelden, dass ich gut im Rennen liege, einen anständigen Vorsprung vor meinem Ziel hatte, und an der Hoffnung festhielt, dieses Jahr, zum ersten Mal seit zwölf Jahren, mein Jahresziel zu erreichen.
Mit wirklich eiserner Disziplin schrieb ich jeden Tag, jeden einzelnen Tag. Ich schrieb, wenn ich Plot hatte, und selbst wenn ich keinen Plot hatte, brachte ich irgendwas zu Papier, nur um meine Streak am Laufen zu halten. Ich schrieb im Hotel, wenn ich eine Lesung hatte, und ich schrieb spät nachts nach der Wetzlarer Preisverleihung. Ich schrieb, während mich eine Depression in ihren Klauen hatte und mich über Wochen davon abhielt, das Haus zu verlassen oder mit anderen Menschen zu kommunizieren, und ich schrieb in der Jugendherberge während der Filk-Convention, selbst wenn das bedeutete, schöne Programmpunkte zu verlassen.
Mein grimmer Ehrgeiz war so groß, meine Angst, die Streak einreißen zu lassen, noch größer – selbst als ich mich mit Covid infizierte und mehrere Tage lang mit Fieber im Bett lag, schrieb ich, hustend und schniefend, trotzdem. Mein liebster Arbeitsort ist ohnehin mein Bett, da mummele ich mich mit meinem Laptop ein, habe ein Keilkissen im Rücken und warme Socken an den Füßen, und ob ich gesund oder krank bin, macht da keinen Unterschied. Ich hatte Glück, mein Krankheitsverlauf war vergleichsweise leicht; letztes Jahr, als ich es im Sommer erwischt hatte, war ich deutlich kränker, aber ich war trotzdem eigentlich zu krank zum Schreiben und tat es trotzdem, einfach nur, um durchzuziehen, was ich Anfang des Jahres angefangen hatte.
So schrieb ich jeden Monat ungefähr ein Nanowrimo-Pensum, mal etwas mehr, mal ein bisschen weniger, immer um die 50.000, und ich schaffte Dinge, die ich im letzten Jahr noch für unmöglich gehalten hätte. Ich schrieb den ersten Band der »Tränenjäger« fertig und brachte ebenfalls das Wörtchen »Ende« unter das bereits verkaufte »Owls End«, ich machte große Fortschritte mit dem »Stumtrinker« und nicht ganz so große mit »Wie Haut so kalt«, ich verbrachte einige Wochen damit, die sechzehn Jahre alten Texte von »Lichtland« neu zu schreiben, und die wohl größte Offenbarung war, dass ich nach zwölfjähriger Pause wieder an meinen »Elomaran« zu schreiben begann, und wenn alles glattgeht, werde ich, noch ehe das Jahr ganz vorbei ist, das fünfte Buch, »Zornesbraut« abgeschlossen haben. Und was auch noch dieses Jahr fertig wird, ist mein neues Kinderbuch, Arbeitstitel »Die vierte Wand«, das voraussichtlich im kommenden Herbst bei Oetinger erscheinen wird.
Das klingt jetzt irgendwie nicht so viel, oder? Schon Oktober, und erst zwei Bücher fertig – hatte ich nicht anderen, weniger erfolgreichen Jahren, auch schon zwei, drei Bücher fertiggestellt? Schon. Aber dieses Jahr sollen es, wenn alles glatt geht, am Ende vier fertige Bücher sein, und viermal Ende hatte ich echt noch nie. Ich will da nicht den Tag vor dem Abend loben – aber mindestens den Hattrick werde ich schaffen. Und mit dem, was ich an den anderen Büchern vorgelegt habe, wird es mir ein Leichtes sein, nächstes Jahr wieder ein paar davon zum Abschluss zu bringen. Mein ehrgeiziges Ziel ist, die Streak von diesem Jahr ins nächste mit rüberzunehmen. Und was dieses Jahr nicht fertig wird, soll das dann nächstes Jahr schaffen.
Aber das Jahresziel, was ist mit dem? Nun, während ich diese Zeilen schreibe, ist mein Jahresziel bereit seit zwei Tagen im Kasten. Vorgestern habe ich das fünfhunderttausendste Wort geschrieben. Ab jetzt produziere ich Bonuswörter. Und wenn der Nanwrimo so ein Erfolg wird, wie ich mir das gerade vorstelle, und ich dann im Dezember nicht doch noch schlappmache, komme ich für 2023 mit nicht weniger als 650.000 Wörtern raus. Aber schon jetzt kann ich sagen: So viel in einem einzigen Jahr habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht geschrieben. Jedes Jahr habe ich verkündet »20xx wird mein Jahr!«, aber 2023 ist das Wirklichkeit geworden.
Ich habe immer gesagt »Wenn ich mal groß bin, werd ich ein Wunderkind«. Jetzt bin ich achtundvierzig, ich bin kein junger Hüpfer mehr, ich habe es im Knie und in den Schultern, und die Gleitsichtgläser meiner neuen Brille haben so viel gekostet wie ein Jahresurlaub – ich sollte diesen Wunderkindquatsch langsam mal drangeben. Ich schreibe Geschichten, seit ich acht Jahre alt bin, veröffentliche seit zehn Jahren Bücher, aber erst in diesem Jahr bin ich wirklich durchgestartet, als stolze Endvierzigerin. Damit kann ich noch dreißig oder so erfolgreiche Jahre hinlegen. Ich darf das nur so schnell nicht einreißen lassen. Den Schwung von 2023 muss ich ins nächste Jahr mitnehmen. Und auch wenn ich mein Ziel jetzt schon geschafft habe, ich will nicht aufgeben, bis ich wirklich an jedem Tag des Jahres mein Pensum geschrieben habe – 1.370 Wörter, das entspricht 1/365 meines Jahresziels, mehr ist immer gut, weniger nicht erlaubt. Mit dem System habe ich meinen T12 geknackt, jetzt steht mir der Nano ins Haus, und ich freu mich schon drauf.
Aber vielleicht bin ich, was den Nanowrimo angeht, dieses Jahr nicht ganz so hungrig wie in anderen Jahren. Ich habe ja schon ein erfolgreiches Schreibjahr im Kasten. Sonst war der Nano für mich der Kaltstart, aus dem sich dann ein gutes nächstes Jahr ergeben sollte. Dieses Jahr starte ich mit prallgefülltem Wörterkonto und bereits warmgelaufen in den November. Und jedes Wort, das ich dort schreibe, ist nur noch Bonus, hilf mir, meine Nanos zu gewinnen, aber für meine halbe Million ist es egal, die habe ich in der Tasche. Egal. Ich will trotzdem, dass dieser Nanowrimo die Krönung eines tollen Jahres wird. Ich kann nichts mehr verlieren. Und das ist ein großartiges Gefühl.
Ich kann die halbe Million knacken. Ich kann sogar noch mehr als das schaffen. Aber eines darf ich nicht: Das für selbstverständlich nehmen. 2023 sind einfach viele Faktoren glücklich zusammengetroffen. Und eh es im Dezember oder Januar Zeit für meinen Jahresrückblick ist, will ich hier auch kein Fazit ziehen. Aber mein Jahresziel, das feier ich gerade. Und mich dazu.