Ich habe mehr als eine Familie. Da ist auf der einen Seite meine richtige Familie, und was die angeht, bin ich in der glücklichen Situation, dass wir ein wirklich gutes Verhältnis haben. Meine Eltern, meine drei Geschwister – ich bin froh, sie zu haben. Wir sehen uns nicht so häufig, und telefonieren tue ich in erster Linie mit meinen Eltern, was daran liegt, dass ich ein echtes Problem mit dem telefonieren habe und bei den allermeisten Leuten nicht gut anrufen kann, weil ich immer überzeugt bin, ich komme ungelegen und störe bei etwas Wichtigem. Aber wenn wir uns treffen, ist es immer schön, wir können über vieles reden, und ich weiß, ich muss keine Angst vor ihnen haben. Selbst wenn ich sonst manchmal die ganze Welt fürchte.
Meine Mutter liest alle meine Bücher, und es ist an der Zeit, dass ich ihr mal wieder was Neues schicke, denn sie hat jetzt angefangen, alle älteren Sachen von mir noch mal zu lesen – und sie liest auch dieses Blog, was mich sehr freut, denn ich weiß nicht, wie viele Leute sich hier sonst so durch meine doch oft sehr persönlichen, gern aber auch geschwätzigen Texte arbeiten. Das ist also meine richtige Familie, aber um die soll es gerade eigentlich gar nicht gehen – ich wollte das nur erwähnen, damit klar ist, dass meine andere Familie kein Ersatz ist, kein Trost, weil ich da weder Ersatz noch Trost brauche, aber ein Freundeskreis, der so eng ist, dass er mir über mein halbes Leben zu einer zweiten Familie geworden ist. Und in dieser Woche habe ich das Glück, erst diese zweite Familie und dann die biologische zu treffen und die geballte Dosis familiärer Liebe abzubekommen.
Ich bin gerade auf einer Filkcon. Ich habe das Zählen aufgegbeben, meine wie vielte es ist – in manchen jahren war ich auf mehreren, in anderen auf keiner, es ist immer auch eine Frage, wie es mir geht und wie viele große Touren ich machen will, denn große Touren sind es bei aller Liebe. Filk, falls noch jemand über das Wort stolpert, ist zuallererst eine Musikrichtung, eine Spielart des Folk, Musik mit einem Bezug zu Fantasy und Science Fiction, aber es kann noch viel, viel mehr sein: Rockig statt folkig, politisch statt phantastisch: Filk definiert sich nicht über die Musik, sondern über die Menschen, die es machen. Das ist eine enggestrickte Szene, über die ganze Welt verteilt und immer offen für Neuankömmlinge, und die meisten sind wie ich eher zufällig hineingeschlittert, sind von ihrem Bekannten, Freund oder Partner mitgeschleift worden und dann hängengeblieben.
Meine erste Begegnung mit dem Filk hatte ich vor vierundzwanzig Jahren, mit vierundzwanzig Jahren, und damit kann ich jetzt voll Stolz sagen, ich filke seit einem halben Leben. Aber das stimmt noch nicht einmal, ich war immer schon ein Filker, ich wusste es nur noch nicht. Lieder habe ich schon geschrieben, da war ich zwölf, dreizehn Jahre alt. ich komme aus einer musikalischen Familie, meine Eltern haben über die Jahre in verschiedenen Bands gespielt, wir haben zuhause viel Musik gemacht, und diejenigen von uns Kindern, die ein Instrument erlernen wollten, durften das auch – in meinem Fall war das die Gitarre, und ich hatte sechs Jahre Unterricht, bis mein Gitarrenlehrer meinte, jetzt kann er mir nichts mehr beibringen, und ich hätte mit meinen Händen vielleicht doch besser Blockflöte gelernt.
Ich bin also nicht das größte Talent, was klassisches Gitarrenspiel angeht, aber ich beherrsche ein paar nützliche Techniken, die ich beim folkigen Fingerpicken gut brauchen kann. Ich singe leidenschaftlich gern und zum Glück auch ziemlich gut. Und ich schreibe eigene Lieder – was will man dann mehr? Ganz einfach: Freunde, mit denen man diese Musik auch teilen kann. Die den Refrain mitsingen, mehrstimmig, und sich freuen, wenn die Ballade bitterböse endet. Die über die Abenteuer meiner Rollenspielcharaktere lachen können, wenn ich die zu einem Lied verarbeitet habe. Und die ihre eigenen Lieder, ihre eigenen Geschichten, und oft auch dadurch ihre eigenen Lieder mit einem teilen mögen.
Dabei war meine erste Filkcon eigentlich furchtbar. Der Bekannte, der mich dorthin mitgenommen hatte, weil er meinte, dass in mir ein Filker steckt, war, gelinde gesagt, bei den meisten Filkern kein besonders gerngesehener Zeitgenosse. Ich will da nicht ins Detail gehen, weil das für mich sehr persönlich wird, aber ich bin froh, dass ich seit Jahren keinen kontakt mehr zu diesem Menschen habe. Er hat mich zum Filk gebracht, und dafür danke ich ihm, aber sonst sind ein paar Sachen passiert, über die ich hier einfach nicht reden möchte. Aber ich war auf meiner ersten Filkcon mit ihm, wir hatten zusammen sogar einen halbstündigen Auftritt vorbereitet – und ich wurde komplett als sein Anhängsel wahrgenommen. Und so warm und offen die Filker eigentlich sind, so schwer war mein Start.
Als unser Auftritt angesagt wurde, standen drei Viertel des Publikums auf und gingen raus. Mein Begleiter nahm das nicht einmal wahr, er gehörte zu den Menschen, die sich für beliebt halten, ohne es zu sein, und drehte sich die Welt seinem Selbstbild entsprechend, aber ich nahm es war, und mir tat das weh, auch wenn ich verstand, dass es nicht gegen mich gerichtet war. Ich tat, und tue das bis heute, mich schwer damit, Kontakte zu knüpfen, auf Leute zuzugehen, Freunde zu finden. Und wenn man im Dunstkreis eines Menschen kommt, der gemeinhin als unangenehm, und das ist noch gelinde gesagt, wahrgenommen wird, dann ist das keine einfache Sache. Aber ich gab trotzdem mein Bestes, sang mit meiner damals noch etwas schüchternen, aber bezaubernd klaren Mezzosopranstimme meine Teile und war am Ende doch ziemlich mit den Nerven fertig – als eine Filkerin zu mir kam und sagte »Du hast schön gesungen«. Nur ein Satz, und doch bedeutete er mir in dem Moment die Welt, weil es hieß, es hatte mich doch jemand gehört.
Danach kam ich auch mit anderen ins Gespräch, ich sang abends im Filkzirkel meine eigenen Lieder, von denen ich erstaunlich viele hatte – vor allem Sachen, die ich begleitend zu meinen Geschichten geschrieben hatte, viele Übersetzungen englischer Folksongs, und ich hatte, trotz dieses Fehlstarts, Spaß. Als Familie hätte ich die Menschen dort noch lang nicht bezeichnet, noch nicht einmal als Freunde – ich nahm eine Gemeinschaft war, zu der ich gern dazugehören wollte, es aber noch nicht tat. Trotzdem tauschte ich mit ein paar Anwesenden die Adressen aus, und dazu gehörte Aryana, alias Tina Alba, die heute, vierundzwanzig Jahre später, zu den Urgesteienen des Tintenzirkels gehört und die wiederzusehen jedes Mal eine helle Freude ist und der ich nie vergessen habe, dass sie zu den allerersten gehörte, die nett zu mir waren, als ich mich noch wie eine Außenseiterin fühlte.
Manchmal muss man sich mit seiner Familie erst zusammenraufen, und das gilt auch, oder erst recht, für Found Family. Ich musste mich aus E’s Schatten lösen, klar machen, dass er nur ein Bekannter von mir war und nicht mein Partner – aber vor allem musste ich mein Selbstbewusstsein finden, Mut, mich zu öffnen, ich selbst zu sein, und vor allem, mich nicht andauernd zu entschuldigen. Die Rampensau, die in mir drinsteckt, rauszulassen. Verstehen, dass da Leute sind, die meine Lieder hören wollen, ohne dass ich mich vorher, nachher, und am besten auch noch mal mittendrin dafür rechtfertigen muss. Mit dieser Unsitte habe ich die Leute in meinen ersten zwei, drei Jahren genervt – aber ich bin jedes Jahr wiedergekommen, und mit jedem Jahr bin ich mutiger geworden, eigenständiger, lauter.
So schleppte ich im Jahr nach meiner ersten Filkconvention meinen erste eigene Beutefilkerin an, Silva, mit der ich einige Jahre lang die Band Lord Landless bildete – von der es sogar eine CD gibt! – und die ich gerade eben die Freude hatte, mit ihrem langjährigen Partner Kjenjo als Duo Loewenthal wieder spielen zu hören. Noch ein paar Jahre später kam dann auch mein Freund mit, der – heute mein Mann – ebenfalls Mitglied der Filkfamilie wurde. Und so wuchs die Community immer enger zusammen. Manchmal reicht es, jemanden einmal im Jahr für drei Tage zu treffen, um einander Familie zu sein. Man betritt den Musiksaal, und es ist, als ob das vergangene jahr nicht existiert oder wann immer man sich zuletzt gesehen hat; als wäre man niemals weggewesen. Man knüpft an Gespräche an, die man vor Jahren geführt hat, man teilt das, was in der Zwischenzeit passiert ist, und wenn es jemandem nicht gut geht, körperlich oder psychisch, gibt es keine blöden Sprüche, sondern ehrliches Verständnis.
Und das gleiche Verständnis erlebt auch, wer sich ein bisschen rauszuziehen muss, wer in all dem Trubel übermenscht ist und sich eben nicht in den nächsten filkzirkel setzen mag, sondern ein bisschen zeit für sich braucht: Dann sind die anderen für einen da, wenn man wieder aus seinem Loch gekrochen kommt. Oder sie fragen, ob sie auch so etwas für einen tun können, und sind doch nicht eingeschnappt, wenn die Antwort gerade Nein lautet. Viele von den Filkern leben mit Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen, und wir gehen offen damit um. Niemand muss sich entschuldigen, niemand muss den Gesunden spielen und so tun, als ob alles in Ordnung wäre.
Unter Filkern fühle ich mich zuhause. Sie gehörten zu den ersten, bei denen ich mich getraut habe, ganz selbstverständlich Hut und Krawatte zu tragen, ohne jemals dafür ausgelacht zu werden – und bei denen es mir früher auch nicht peinlich war, lange Kleider zu tragen, in denen ich niemals einfach so auf die Straße gegangen wäre. Und mit der gleichen Selbstverständlichkeit bin ich jetzt auch gefragt worden, welche Pronomen ich bevorzuge – es haben einige meinen Blogartikel neulich gelesen, und ich fand es sehr lieb, dass sie daran gedacht haben, und nachdem ich erst abwiegeln wollte und sagen »Ach, lasst alles so wie immer, nur keinen Aufwand!«, habe ich mir doch ein Herz gefasst und gefragt, ob männliche Pronomen in Ordnung wären.
Auch das Problem mit dem Namen stellt sich hier weniger. Im Filk war ich nie Maja. Viele Filker im deutschen Filkfandom sind unter Bardennamen oder anderen Spitznamen unterwegs, und so war ich, von meiner ersten Convention an, Thesilée – abgeleitet, wie ich das oft erzählt haben, von der Amazonenkönigin Penthesilea. Inzwischen nennen mich die meisten sowieso Thesi. Und das kann ebenso gut ein männlicher Name sein wie ein weiblicher. Ich überlege noch, eine kleine Änderung vorzunehmen und das letzte E wegfallen zu lassen, damit daraus die männliche Fassung wird, Thesilé, aber das sieht so ungewohnt aus, so fremd, so falsch, dass ich es erst einmal so lasse. Aber Thesi und er, damit fühle ich mich wohl – und wer das so schnell nicht auf die Kette kriegt, denen nehme ich auch nicht übel, wenn sie bei weiblichen Pronomen bleiben. Ich fange ja gerade erst an. Aber ich fange an.
Und darum habe ich mir für meinen Auftritt im Hauptkonzert auch ein sehr persönliches Lied rausgesucht. Es heißt Unicorn? und handelt von einem Einhorn mit zwei Hörnern, also einem Bicorn, dessen zweites Horn das richtige ist. Ich habe es vor mehr als zwanzig Jahren geschrieben, lange bevor ich auch nur angefangen habe, mich mit dem Thema Transsein auseinanderzusetzen, geschweige denn mein eigenes zu verstehen, und erst jetzt habe ich verstanden, wie sehr dieses Lied schon immer von mir gehandelt hat. Werde ich das in der Einleitung erklären oder sein lassen? Ich glaube, ich lasse es sein. So viel Zeit für lange Ansagen ist im Hauptkonzert nicht, und ich denke, die, die mich kennen, verstehen das Lied – und mich – auch so.
Mein halbes Leben im Filk – das heißt auch, ich bin mit dem Filk gereift. Und so wohl ich mich auch in der Gemeinschaft fühle, so sehr merke ich in ihr auch, dass ich älter werde. Wenn wir aufeinandertreffen, immer nach einem oder einem halben Jahr Abstand oder noch mehr, sind wir alle ein bisschen grauer geworden und ein bisschen weiser, aber es sind die Kinder, an denen wir es wirklich merken, wie die Zeit vergeht. Viele Filker haben Familie, Nachwuchs. Und die Babys, die zu meiner ersten Con geboren worden sind und die ich noch habe zwischen den Stühlen im Musiksaal herumkrabbeln sehen, sind lange erwachsen. Neue Kinder sind hinzugekommen und wachsen vor unseren Augen auf, und gerade weil man sich eben nicht so häufig sieht, springt das immer gleich sehr ins Auge. Aber ich versuche, mich dabei nicht zu alt zu fühlen. Schließlich sind es die Kinder, für die mehr Zeit vergangen scheint als für mich. Ich fühle mich gar nicht so anders, verglichen zu vor vierundzwanzig Jahren. Bisschen grauer, bissen mutiger, deutlich dicker – und wirklich, damit kann ich leben.
Damals, Anfang, Mitte zwanzig, da hatte ich noch ein echtes Problem mit der Vorstellung, dass meine Zeit verstreichen und mir das Leben durch die Hände rinnen könnte. Das hat mich in den Tagen meiner ersten Depressionen sehr runtergezogen und fertiggemacht, und ich habe es versucht, in Liedern zu verarbeiten – und so ist Die Quelle entstanden, eines meiner – innerhalb dieser Kreise – bekanntesten Lieder, in dem es heißt »Es fließt eine Quelle, ihr Wasser so kalt / und wer davon trinket wird zweimal so alt«. Den Text dieses Liedes muss ich mir demnächst, kommendes Jahr oder so, noch mal vornehmen. Denn dann bin ich zweimal so alt, wie ich war, als ich es geschrieben habe.
Eigentlich ist es paradox, dass ich hier, wo ich unter familiären Freunden bin, allein auf meinem Zimmer sitze und einen Blogartikel schreibe. Aber manchmal brauche auch ich einen Moment für mich allein. Dutzende Menschen auf einem Haufen, egal wie gern man sie hat, das kann schlauchen. Und auch für die Con gilt, dass ich mein tägliches Schreibpensum absolvieren möchte. Sommers wie Winters … Und vielleicht schreibe ich doch noch mal ein neues Lied. Das letzte liegt ein Weilchen zurück. Früher habe ich mehr Lieder geschrieben. Und weniger Bücher. So ist das mit den Mehrfachbegabungen – ich beherrsche viele Küste, aber mehrteilen kann ich mich nicht.
Meine Hauptbegabung bleibt das Schreiben. Ein Virtuose an der Gitarre wird aus mir nicht mehr. Und es gibt auch Leute, die besser singen. Aber das, was ich bin, was ich kann, das wird hier gewertschätzt. Unter Freunden. Und für mich sind sie wie eine zweite Familie. Einmal im Jahr, ein halbes Leben lang.