Blitz-Geburt

Ich habe heute den Nanowrimo ausgerufen. Das ist die größte Macht, über die ich im Leben verfüge: Entscheiden, wann im Tintenzirkel das Nanowrimo-Aufwärmtraining beginnt. Und damit viele Leute glücklich machen. Ich mache gerne Leute glücklich. Und ich weiß, ab August haben da schon einige Hummeln im Hintern, wollen am liebsten sofort loslegen, und müssen sich doch gedulden, bis ich das Board dafür eingerichtet habe. Üblicherweise ist es in der zweiten Augusthälfte soweit. Und weil ich heute ein bisschen Leerlauf hatte, bin ich hingegangen und habe alles in die Wege geleitet. Damit hat im Tintenzirkel dann heute offiziell die schönste Zeit des Jahres begonnen. Die ersten Romanthreads stehen, andere sind erst im Stadium der Ideenfindung – und ich habe, wie ich es manchmal tue, gerade alle Pläne über den Haufen geworfen, was ich im Nano schreiben will, und stehe wieder bei Null.

In manchen Jahren weiß ich schon ab Februar, März, was ich im Nanowrimo zu schreiben gedenke, und verbringe das ganze Jahr mit der Vorfreude darauf, plotte, recherchiere, und habe mit der Eröffnung des Nano-Boards nicht nur einen vollständig stehenden Plot, sondern auch schon die ersten Sätze im Kopf. Aber das sind üblicherweise Jahre, in denen ich über den Nanowrimo hinaus nicht viel zu Papier bringe. Dieses Jahr ist anders. Dieses Jahr ist ein Schreibjahr. Anders gesagt: In noch keinem Jahr meines Lebens habe ich so viel geschrieben wie 2023. Gestern abend habe ich die 400.000-Wort-Marke überschritten. So viel war in anderen Jahren mein Jahresziel, und der August ist noch nicht rum. Und ich denke, dass ich dieses Jahr mein Ziel von 500.000 Wörtern deutlich überschreiten werde.

Es fühlt sich gut an. Ich fühle mich gut. Ich muss mich nicht anstrengen, nicht übernehmen, ich schreibe einfach jeden Tag mein Pensum und bin glücklich damit. Das Schreiben erfüllt mich, macht mir Spaß, und ich stelle mir vor, wie das so weitergeht, über das Ende des Jahres hinaus und für alle kommenden Jahre. Ich setze einen Fuß vor den anderen und schreibe vergnügt Tag für Tag vor mich hin. Anfang des Jahres dachte ich ja noch, ich bin ein Quartalsschreiber, haue ganz viel auf einen Schlag raus und fange dann an zu schwächeln, aber ich habe mich eingegroovt – ich bin kein Quartalsschreiber mehr, ich bin Dauerschreiber, ich habe einen geregelten Arbeitstalltag, und zum ersten Mal, seit ich mich 2011 als Schriftstellerin selbständig gemacht habe, fühle ich mich nicht als Hochstaplerin.

Aber das bringt für den Nanowrimo neue Herausforderungen mit sich. Ich möchte nämlich, dass der Nano genau das ist: Eine Herausforderung. In diesem Jahr habe ich geschrieben, geschrieben und geschrieben. Das Pensum für den Nanowrimo sind 50.000 Wörter – so viel habe ich in diesem Jahr in so ziemlich jedem Monat geschrieben, nur im Februar und Juni bin ich knapp drunter geblieben, und in zwei Monaten, April und Juli, habe ich sogar die offizielle Camp-Nanowrimo-Challenge mit jeweils 50.000 Wörtern an jeweils einem einzelnen Projekt rausgehauen. Der Nano soll mich fordern. Das gehe ich üblicherweise damit an, dass ich nicht einen, sondern zwei Nanos schreibe, also ein Gesamtziel von 100.000 Wörtern anstrebe, und auch wenn ich das nicht jedes Mal schaffe, ist es jedes Mal eine Herausforderung, die mir Spaß macht. Einen Doppelnano soll es auch in diesem Jahr geben. Nur, was schreibe ich?

Hätte man mich Anfang des Jahres gefragt, hätte ich ohne zu zögern geantwortet: »Lichtland«. Das war mein Nano-Roman 2007, mein Nano-Roman 2015, alle acht Jahre erschien mir wie ein guter Rhythmus, um an dieser Geschichte zu arbeiten – aber warum bis zum Nano warten, wenn man schon vorher Lust auf ein Buch bekommt? Will ich zehn Monate Däumchen drehen, nur um dann im November durchzustarten? Und so habe ich im Mai und Juni so fleißig an »Lichtland« geschrieben, dass mein Bedürfnis nach diesem Buch jetzt erst einmal gedeckt ist. ich bin immer noch nicht fertig damit, habe aber gegenwärtig auch keinen Plot dafür, und auch wenn ich nicht vorhabe, noch mal acht Jahre zu warten, ehe ich daran weiterarbeite, wird das nicht mein Nano-Roman 2023.

Hätte man mich letzte Woche gefragt, oder auch heute Vormittag, hätte ich auch nicht lang überlegen müssen. Da bin ich nämlich davon ausgegangen, dass ich »Himmelsgrund« schreibe, das sechste Buch der »Chroniken der Elomaran«. Denn bis zum Nano, da bin ich mir ziemlich sicher, habe ich das fünfte Buch, »Zornesbraut«, fertig und kann dann direkt da weitermachen, wo ich aufgehört habe. Dachte ich. Aber dann kamen die Bedenken. Musste ich mich fragen, ob das Buch wirklich für den Nano geeignet ist. Und dann, aus zwei Gründen, habe ich mich dagegen entschieden.

Der eine Grund ist einfach: Ich schreibe dieses Buch sowieso. Ich brauche keinen Nanowrimo dafür. Ob ich noch dieses Jahr mit der Arbeit daran anfange oder erst irgendwann im nächsten: »Himmelsgrund« wird geschrieben. Der Nano, hingegen, ist toll, um ein brandneues Projekt aus der Taufe zu heben. Figuren kennenlernen, mit denen man eben noch nicht seit dreiundzwanzig Jahren arbeitet. Geschichten schreiben, die bei Null anfangen – auf diese Weise habe ich schon im Nano die tollsten neuen Ideen gehabt, auch wenn diese Bücher nicht immer über den Nano hinaus weitergewachsen sind und jetzt ein bisschen auf Eis liegen, wie mein letztjähriges »Glaslabyrinth«. Es ist das Neue, was den Nano so faszinierend macht. Viel schreiben kann ich jeden Monat, aber nur der Nano ist der Nano.

Das andere, was gegen die Elomaran sprach, war der Gemeinschaftsgedanke. Im Nanowrimo schreiben wir im Tintenzirkel nicht allein im stillen Kämmerlein. Wir lassen die anderen am Entstehen der Geschichten teilhaben, wir schnipseln jeden Tag einen kurzen Ausschnitt und berichten, wie sich die Handlung entwickelt – dafür sind wir aber darauf angewiesen, dass andere unseren Romanthreads folgen. Hat man keine oder zu wenige Mitleser, kann der Spaß leider auf der Strecke bleiben, und das ist mir schon ein, zweimal so gegangen, ich musste zusehen, wie andere Romanthreads explodierten, während ich in meinem Selbstgespräche geführt habe. Seitdem achte ich im Nanowrimo darauf, Projekte zu schreiben, an denen möglichst viele Tizis Spaß haben können.

Und dafür muss auch der Einstieg benutzerfreundlich sein. Die Elomaran sind das nicht. Das Was-bisher-geschah, das für ein Verständnis der Handlung nötig ist, füllt allein schon Bände. Über 2.200 Seiten Text wollen zusammengefasst werden – das geht nicht ohne Weiteres. Und es treten so viele Figuren auf wie sonst in keinem Buch von mir – allein die Perspektivträger machen schon das Dutzend voll. Sicherlich sollte es kein Problem sein, im Nano die ersten 50.000 Wörter an »Himmelsgrund« zu schreiben – nur würde ich damit wohl allein auf weiter Flur sein. Nein, es gibt keine Elomaran für mich im Nano.

Auch was mein geplantes zweites Projekt angeht, bin ich plötzlich unsicher. Da wollte ich eigentlich wieder ein Kinderbuch schreiben – den Auftakt einer geplanten Reihe, Arbeitstitel »Die Pfennigfüchse«. Die Grundidee für die Geschichte einer Kinderbande, die mittels Kleingeld durch die Zeit reist (nämlich immer in das Jahr, in dem eine Münze geprägt worden ist) kam mir auf Anregung meiner Agentin hin, die meinte »Schreib doch mal wieder was mit einer Kinderbande«, und nachdem ich erst gar keinen Ansatz hatte, traten die Geschwister Ren, Franja und Rada auf und brachten Plot mit. So weit, so gut – wir wollten das bei meinem Verlag als möglichen Nachfolger für »Unten« anbieten und haben das auch getan, zusammen mit zwei anderen Projekten, von denen ein anderes wohl (hoffentlich) das Rennen macht.

An jenem Projekt, AT »Die vierte Wand«, habe ich während der letzten Wochen so fleißig geschrieben, dass ich auch das vielleicht noch vor dem Nano fertig bekomme, und selbst wenn nicht: da habe ich jetzt 25.000 Wörter im Kasten, und was an dem Buch noch fehlt, reicht nicht mehr für einen Nano. Die »Vierte Wand« wird also nicht mein Nano-Roman. Die »Pfennigfüchse», hingegen, haben vielleicht im direkten Vergleich bei meinem Verlag den Kürzeren gezogen, aber das heißt nicht, dass die Geschichte jetzt vom Tisch ist. Das Schicksal der drei Geschwister lässt mich nicht kalt, und ihre Geschichte will erzählt werden – aber ist das etwas für den Nano? Da bin ich mir gerade zutiefst unsicher. Zeitreise erfordert viel Recherche, und ich weiß nicht, inwieweit ich daran gerade Spaß habe. Also stelle ich auch diese Idee jetzt erst einmal zurück, statt dafür ein Thema im Forum aufzumachen. Und suche weiter nach meiner Idee für den Nano.

Im letzten Jahr war es ein zähes Ringen, meinen Nanoroman zu finden. Ich hatte das ganze Jahr über kaum geschrieben, dachte schon, meine Kreativität verloren zu haben, und musste nicht nur einen Plot finden, der das Forum mitreißen und mich mit Glück füllen würde, sondern außerdem den Beweis führen, dass ich es noch drauf hatte. Da habe ich alle Versatzstücke, die ich toll finde (Glas! Träume! Irrgärten!) in einen Topf geworfen, gut geschüttelt, und das perfekte Nanoprojekt rausbekommen. Klappt das dieses Jahr noch mal? Es wird schwer. Ich habe nicht mehr viele Lieblingsdinge übrig, die ich nicht schon anderswo verbraten habe. Außer vielleicht Tarotkarten. Die finde ich schön, und mit Tarotkarten habe ich noch nie etwas gemacht. Aber Tarotkarten allein schreiben keine Bücher …

Und dann trat, gerade eben, ein Typ im Mantel auf. Langer Mantel, leicht angeranzt, gutaussehender Typ, und meint, ich soll mein Buch über ihn schreiben. Sagt sonst nicht viel. Auch auf diese Weise bin ich schon an Nanoromane gekommen. So hat sich vor zwei Jahren Grigori, der »Sturmtrinker«, bei mir vorgestellt. So habe ich vor zwölf Jahren Percy kennengelernt und sehr kurzfristig alle Nanopläne über den Haufen geworfen, um die »Mohnkinder« zu schreiben. Jetzt also habe ich einen Typen im Mantel. Tarotkarten. Und plötzlich, buchstäblich aus heiterem Himmel, Blitze. Kann es sein, dass Typ-im-Mantel ein Blitzmagier ist? So schnell kann’s gehen. Eben noch stehe ich ohne alles da. Als nächstes habe ich einen Blitzmagier im, warum auch nicht, Steampunk-Setting. Und statt einer brandneuen Idee klingelt da eine ziemlich alte Sache.

Vor fünfundzwanzig Jahren hatte ich meine erste Begegnung mit Steampunk über ein sehr kurzlebiges E-Mail-Rollenspiel. Mein Charakter war Sandy, ein junger Mann, der von Blitzen und Elektrizität fasziniert ist und versucht, in einer Welt, in der alles mit Dampf betrieben wird, den elektrischen Strom einzuführen. Ach ja, und er war ein Terrorist. Und paranoid. Und morphiumabhängig. Und keine Figur, wie ich sie heute noch so bauen würde. Aber nichts hält mich davon ab, mich bei mir selbst zu bedienen, die alte Idee auszuschlachten und etwas Neues draus zu machen. Es muss ja nicht gleich ein paranoider Morphinist sein. Und er muss auch nicht mehr Sandy heißen, wenn ich schon einen Sandro habe und einen Alexander. Aber Sandy hatte auch einen sehr schönen Nachnamen: Tresilean. Damit kann ich arbeiten. Der Typ im Mantel heißt also jetzt Tre. Und alles, was mir für einen Romanthread im Forum noch fehlt, ist ein knackiger Titel … Moment mal! Wie klingt »Funkenschwarz«?

So schnell kann es also gehen. Habe Hauptfigur. Habe Titel. Habe Setting.
Der Nano kann kommen.

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