Ich fühle mich mit meinen Tränenjägern gerade, als wäre ich auf der Kirmes. Eine Runde, und noch eine Runde, und die nächste Runde drehen wir rückwärts! Nun bin ich dran gewöhnt, dass ein Buch die eine oder andere Überarbeitungs- und Lektoratsrunde dreht, bis es meinen Qualitätsstandards und denen des Verlags entspricht – das »Gefälschte Siegel« habe ich dabei nahezu komplett neu geschrieben, und das »Gefälschte Land« musste nach der gründlichen Überarbeitung und Kürzung noch mal um achtzig weitere Seiten gekürzt werden, weil es einfach noch viel zu lang war – aber das sind Schritte, die kommen für mich sonst erst nach der Fertigstellung des Buches. Erstmal schreibe ich meine Rohfassung. Dann geht es ans Überarbeiten, Neuschreiben, Straffen.
Natürlich, manchmal überarbeite ich schon während des Schreibprozesses. Wenn ich merke, dass ich mich mit einer Szene verrannt habe, es nicht so funktioniert, wie ich mir das gedacht hatte, dann schmeiße ich das Szenenfragment in die Tonne, mache einen Schritt zurück und biege an der letzten Weggabelung anders ab, damit es besser funktioniert. Aber ich habe noch nie einen ganzen Handlungsbogen immer und immer wieder von vorne geschrieben. Und genau da bin ich gerade.
Mein Problem ist nicht, dass ich mit einer Szene nicht zufrieden bin, oder mit einem Kapitel – mein Problem ist meine Hauptfigur, Kell, die Küchenmagd mit den ritterlichen Ambitionen. Sie ist nicht so, wie ich sie gerne hätte. Aber sie ist so, wie sie ist, und mit jedem Mal, das ich neu ansetze und die drei Kapitel, bevor sie auf den Rest meiner Gruppe trifft, von vorne schreibe, festigt sich ihr Charakter mehr und mehr. Und da hilft es auch nicht, dass ich mir jedes Mal vornehme, es diesmal aber ganz, ganz anders zu machen – ich ändere die äußeren Umstände, aber Kell bleibt Kell.
Dabei ist es nicht so, dass ich ihre Perspektive nicht gut schreiben könnte. Im Gegenteil, Kell flutscht, und sie nimmt mir nicht einmal übel, dass ich ihre erstes Kapitel jetzt insgesamt viermal geschrieben habe. Ich kann gut mit ihr arbeiten, und normalerweise wäre dann Beschweren das letzte, was ich im Sinn habe. Und auch daran, dass Figuren anders werden, als sie konzipiert waren, bin ich gewöhnt – im Gegenteil, es würde mich sehr wundern, wenn Charaktere so enden, wie ich sie mir mal gedacht hatte.
Meine Arbeitsweise ist so, dass ich sehr organisch an eine Geschichte herangehe, mit nur einem Minimum an vorgefertigtem Plot, die Dinge laufen lasse und meine Figuren unterwegs kennenlerne, sie sind, wie sie sind, und ich bin nur dann unzufrieden mit ihnen, wenn ich keinen Draht zu ihnen bekomme, ihre Perspektive zäh ist oder ich einfach nicht in ihre Geschichte hineinkomme. Nichts davon trifft auf Kell zu. Ich mag sie sogar. Aber ich bin erfüllt von einer gewaltigen Sorge: Dass die Leser:innen sie hassen werden.
Über so etwas habe ich mir früher keine Sorgen gemacht. Es ging mir nie darum, über kleine Sonnenscheinchen zu schreiben, die jedermann gern hat, ich hatte immer Figuren, die als polarisierend angelegt waren, und war einverstanden damit, wenn sie eben nicht jeder gleich gern hatte. Und dann kam »Das gefälschte Siegel« raus mit seinen vier mehr oder weniger verkrachten Hauptfiguren, und wie ich erwartet hatte, fand nicht jeder sie toll. Kevron, ein versoffener Feigling. Lorcan, selbstgerecht. Tymur, narzisstisch. Und Enidin, die ehrgeizige Streberin. Figuren, bei denen jede:r Leser:in etwas zu lieben und zu hassen finden sollte – und alles, alles hasste Enidin.
So etwas war mir noch nie passiert. Eine Welle des Hasses ergoss sich über meine arme Magierin. Niemand, noch nicht mal die wohlwollendsten Rezensent:innen, konnten ihr etwas abgewinnen. Dachte ich, mit ihr einen doch recht liebenswerten Nerd erschaffen zu haben, hatte ich eine Figur, die niemand ausstehen konnte. Da verzieh man Kevron jeden Absturz, liebte Tymur für seine Selbstverliebtheit, nur um dann ausgerechnet Enidin für egoistisch, abgehoben, selbstherrlich zu halten. Wenn ich dann im Fazit las, man warte trotz Enidin den nächsten Band … dann musste ich doch kräftig schlucken. Ich will nicht, dass jeder meine Hauptfiguren mag. Aber wenn jeder eine dieser Figuren bis aufs Blut hasst – das geht mir nahe. Vor allem, wenn diese Figur ein ziemliches Spiegelbild meiner selbst ist.
Als ich »Das gefälschte Land« schrieb, versuchte ich, Enidin sympathischer zu gestalten, ihre Nerdigkeit besser herauszukehren und ihre Unsicherheit im Umgang mit Menschen prominenter zu platzieren als ihren Ehrgeiz, und sie kam unterm Schnitt besser weg, aber dafür mussten die Leser.innen es überhaupt erst mal in den zweiten Band geschafft haben, und zur Lieblingsfigur reichte es für sie nicht mehr. Sie hat auch im dritten Band noch eine Entwicklung durchgemacht, auf die ich sehr stolz bin, aber wie das dann bei der Leserschaft ankommt – das kann ich jetzt erstmal nur raten, das Buch erscheint ja erst in zwei Monaten. So oder so habe ich mit Enidin eine Figur erschaffen, die beim Publikum komplett durchgefallen ist, und das sollte bei so einem wichtigen Perspektivträger nicht sein.
Nun also zu Kell. Kell ist anders als Enidin, aber sie erfüllt im Buch eine ähnliche Nische – das jüngste Mitglied der Heldengruppe, das lernen muss, sich gegen die anderen durchzusetzen. Beide haben gemeinsam, dass sie weiblich sind, und das ist in diesem Zusammenhang wichtiger, als es mir persönlich lieb ist. Enidin war die einzige Frau in einer ansonsten männerdominierten Gruppe, Kells Gruppe besteht aus zwei Männern und zwei Frauen, aber die andere, Arnnis, spielt in ihrer eigenen Liga, sie ist älter als die anderen, eine gestandene Meisterdiebin, und nicht zu vergessen tot. Arnnis ist im Vergleich zu Kell sperriger zu schreiben, wegen ihrer Problematik, als Geist mit ihrer Umwelt zu interagieren, aber Kell ist mein Sorgenkind. Und sie wäre es nicht, wenn sie männlich wäre.
Kell ist, zu Beginn der Geschichte, schwach. Sie trägt ein unbewältigtes Trauma mit sich herum, das vom gewaltsamen Tod ihrer Eltern ausgeht und von ihrer Umwelt nur noch weiter zementiert wurde, sie ist als Küchenmagd das unterste Glied in der Hackordnung, verbringt den Tag damit, Gemüse zu hacken und vor sich hin zu träumen, und wenn die Arbeit getan ist und niemand sie beobachtet, schleicht sie sich auf den Übungsplatz und tut so, als wäre sie ein Ritter – sie wäre gern etwas anderes, raus aus der Küche, aus dem Tempel, würde gern Heldentaten vollbringen, aber sie hat die Hoffnung aufgegeben, dass sich wirklich etwas für sie ändern wird.
Wäre Kell ein junger Mann, ich wäre zufrieden mit ihm – er ist verwundbar, er zeigt Schwäche, er trägt einen Zorn in sich, der nur darauf wartet, zu erwachen und Besitz von ihm zu ergreifen. Kell ist genau so, wie ich meine Figuren mag, aber ich rechne damit, dass die Leser:innen an eine weibliche Figur eine andere Erwartungshaltung haben, nicht über eine Frau lesen wollen, die sich kleiner macht, als sie ist, die einsteckt, ohne aufzumucken, die eben nicht die Starke Frau™ ist, sondern erst in diese Rolle hineinwachsen muss – es steckt ein Potenzial für Heldentaten in ihr, aber sie muss es erst entfalten. Kell ist bereit, ihren Weg zu gehen, aber ich reiße sie immer wieder zurück, befehle ihr, anders zu werden, sympathischer, stärker, und sie legt eine bemerkenswerte Sturheit an den Tag, jedes Mal mehr sie selbst zu werden.
Inzwischen stehe ich also da und habe die immer gleiche Geschichte viermal geschrieben und kann nicht sagen, ob sie davon besser geworden ist – auch das hatte ich noch nicht, üblicherweise werden die Szenen, die ich neu schreibe, besser als die Vorgängerversionen, weil ich bei denen den Finger drauf legen kann, was schief gelaufen ist. Hier hingegen komme ich mehr und mehr zu dem Schluss, dass das einzige, was hier schief läuft, ich selbst bin. Meine Versuche, in vorauseilendem Gehorsam eine Figur auf Deubel Komm Raus sympatisch zu machen, ohne zu wissen, was meine Leser:innen nun wirklich sympathisch finden. Ich meine, Tymur ist das letzte Arschloch und hat trotzdem mehr Fans als jeder andere – es kann also nicht nur darum gehen, dass eine Figur sich sympatsich verhält. Tymur sieht blendend aus, aber ich weigere mich zu glauben, dass meine Leser:innen so oberflächlich sind, ihre Sympathien nur nach Äußerlichkeiten zu vergeben. Wahrscheinlich muss einfach ein bestimmter Funke überspringen, ein Funke, der außerhalb meiner Kontrolle liegt – und sich zumindest nicht erzwingen lässt.
Ein fünftes Mal werde ich Kells Geschichte nicht mehr schreiben. Ich will mit diesem Buch weiterkommen, nicht auf der Stelle treten, und mir ist nicht damit geholfen, wenn ich mit jedem Durchgang unzufriedener mit mir selbst werde, mehr und mehr an meinen Fähigkeiten zweifle bis zu einer Stelle, wo ich denke, dass ich es gänzlich verlernt habe. »Die neunte Träne« ist die Geschichte, die ich immer schon schreiben wollte, mit vielen elementen, die ich über alles liebe, und mit einer Heldengruppe, an der ich hänge – und Kell ist ein Teil dieser Geschichte, so, wie sie ist. Hingehen und sie zu einem Mann machen, damit ich mit der Verletzlichkeit der Figur durchkomme, und dann wieder nur eine Frau auf drei Männer zu haben, ist ein Fehler, den ich nicht zu machen gedenke.
Kell ist keine Quotenfrau. Sie ist eine traumatisierte, empfindsame, verträumte junge Frau, und ihre Verletzlichkeit, ihr Duckmäusertum, ihre Ängste hat sie von mir. Wenn ich Angst habe, dass das Publikum sie nicht mag, habe ich in Wirklichkeit Angst, dass sie mich nicht mögen. Kell, wie Enidin, ist ein Teil von mir, einer, den ich nicht unbedingt toll finde, den ich lieber anders hätte, mutiger, stärker, aufrechter, selbstsicherer, aber so bin ich, und so ist eben auch Kell. Nach vier Durchgängen als tapferes kleines Karussellpferdchen hat sie sich ihren Anteil an der Geschichte wahrlich hart erkämpft. Ich muss es drauf ankommen lassen, ob die Leser:innen sie so, wie sie ist, mögen. Aber ich sollte damit anfangen, mir das wichtigste überhaupt einzugestehen: Ich mag sie. So, wie sie ist.
Ja, Tymur hat etwas an sich, das einen einfach anzieht. Und nein, es liegt nicht an seinem Aussehen. Ich sehe momentan jedes Wochenende eine neue Folge der koreanischen Serie Bulgasal. Der Haupt-Antagonist wird einerseits bösartig, hinterhältig und grausam dargestellt, zugleich sieht man aber auch bei ihm Verletzlichkeit und Sehnsucht nach etwas, das ihm verwehrt ist. Er ist ein zutiefst komplexer, tragischer Charakter. Und das ist es, was ihn auf seltsame Weise sympathisch macht, obwohl er so viele Dinge tut, die verabscheuungswürdig sind. Ich denke es ist bei Tymur ähnlich. Du hast ihn komplex und vielschichtig dargestellt. Und diese Vielschichtigkeit dieses nicht ausschließlich böse sein, diese Momente, in denen man Hoffnung schöpft, dass da doch etwas Menschlichkeit in ihm ist, die sind es, an die man sich als Leser klammert. Ich fühle selten mit den strahlenden Helden mit. Meist mag ich die Antagonisten, insbesondere dann, wenn eine gewisse Tragik in ihrem Hintergrund liegt. Das ist es, was ich an Tymur mag, diese Tragik, die ich bei ihm einfach auch spüre, eine Tiefe und Komplexität. Bei ihm springt bei mir einfach etwas über, durch das ich Mitgefühl mit ihm entwickle und da ein Teil in mir sich wünscht, er könnte gerettet werden. 🙂 Und dann kommt wohl noch hinzu, dass gefährliche Charas einfach faszinierend sind. In der Realität würde man um solche Menschen einen riesen Bogen machen. Aber in Geschichten kann man sich der Gefahr hingeben, ohne, dass einem dabei selbst körperlich etwas passieren kann. Dieses Abenteuer, dieses Ausreizen der Gefahr, ist insbesondere für Menschen deren Alltag sehr langweilig ist, etwas, das einfach Spaß macht.