Eine knappe Woche, nachdem die Flutkatastrophe meine Heimatstadt in Trümmer gelegt hat, sollte man meinen, dass der Verstand endlich anfängt, das ganze zu verarbeiten und zu realisieren, was da alles passiert ist, aber das Gegenteil ist der Fall. Ich sitze in meinem gutbeleuchteten Haus, kann warm baden und das Internet nutzen, und was da nur hundert Meter entfernt von meiner Haustür liegt, fühlt sich völlig unwirklich an, und ich mich völlig stumpf.
Eine seltsame Form des Alltags hat uns wieder. Wir kochen unser Trinkwasser mit einer Selbstverständichkeit ab, als hätten wir das schon immer getan – so wie man sich auch nicht mehr vorstellen kann, einmal ohne Maske auf die Straße gegangen zu sein. Wir leben, als wäre nichts passiert, aber alle digitalen Uhren in unserem Haus blinken und zeigen die Zeit an, als am Samstag der Strom wieder angestellt wurde, wir haben keine von ihnen gestellt, Zeit ist so unwirklich wie alles andere. Ich weiß nicht, welchen Tag wir haben, aber wie viele seit der Flut vergangen sind: Sechs.
Es ist alles nicht wirklich. Am Anfang von »Per Anhalter durch die Galaxis« ist eine Stelle, wo Arthur Dent versucht, die Zerstörung der Erde zu verarbeiten. Er ruft sich vor Augen, was alles nicht mehr existiert, und als er bei Amerika angekommen ist, kommt er zu dem Schluss, dass er an die Existenz Amerikas sowieso nie geglaubt hat. Da bin ich jetzt. Es ist alles nicht wirklich, und war es nie.
Die ganze Welt außerhalb der Höhle hat nie existiert, und was wir sehen, sind nur die Schatten der Dinge. Ich kann plötzlich verstehen, warum Leute anfangen, Dinge, von denen ihnen jeder bestätigen kann, dass sie wirklich sind, anfangen zu leugnen – weil es tröstlich ist, so zu tun, als wäre die Welt eine ganz andere. So, wie sie jetzt ist, spätestens seit den letzten beiden Jahren … So würde ich sie gerne zurückgeben. Diese Welt habe ich nicht bestellt, nicht so. Am liebsten würde ich einen Spielstand laden, zwei Jahre alt oder so, und hoffen, dass es beim nächsten Mal besser läuft.
Noch nie war es so verlockend, einfach den Verstand loszulassen, der Wirklichkeit den Stinkefinger zu zeigen, und sich in wohligen Wahn zurückziehen. Und das Schlimme ist – ich könnte das wahrscheinlich sogar tun. Ich weiß, wie sich Wahnvorstellungen anfühlen, ich habe viele Jahre damit verbracht, gegen sie anzukämpfen, aber gerade fällt es mir schwer, zu sagen, dass die Wirklichkeit attraktiver wäre, oder besser, oder sonst wie lohnend. Haltet die Welt an, ich will aussteigen …
Ich war schon einmal in so einer Situation, wo mich die Weltereignisse derart überrollt haben, dass ich nicht mehr mitgekommen bin – am 11. September 2001, als das World Trade Center explodierte und die Welt nicht mehr die gleiche war. Und sicherlich hat dieses Ereignis die ganze Welt bewegt und die folgenden Jahrzehnte geprägt. Ich war sprachlos, mehrere Tage lang, und es war ausgerechnet der Tod meines Meerschweinchens am gleichen Tag, der mir geholfen hat, das Geschehen zu verarbeiten – ein einzelner Tod in meiner direkten Umgebung, um den ich trauern konnte, das war greifbar, das konnte ich verarbeiten.
Die Flutkatastrophe wird das nicht tun. Die ganze Welt hat darüber berichtet und geht wieder zur Tagesordnung über. Aber anders als das Word Trade Center, das weit weg war und sich nur mittelbar, und nicht direkt, auf mein persönliches Leben ausgewirkt hat, ist das hier buchstäblich meine Türschwelle, die Stadt, in der ich wohne, für immer verwundet und verändert, die Auswirkungen bis in mein eigenes Haus spürbar. Stolberg ist keine große Stadt, aber es ist so viel zerstört, dass ich keinen Ansatz habe, mit dem Verarbeiten anzufangen.
Ich bin kein gesunder Mensch, wo es um seelische Dinge geht, aber ich ahne, dass das eine ganze normale, menschliche Reaktion ist: Um einen einzigen Toten kann man trauern, aber wenn auf einen Schlag alle tot sind, oder eben nicht ein Haus von der Flut beschädigt wird, sondern die ganze Innenstadt voll Trümmer ist, dann macht das Hirn erst einmal dicht, eine ganz normale Bewältigungsstrategie, mit dem der Verstand versucht, sich selbst zu schützen, bis er in der Lage ist, das Ganze in mundgerechten Stücken zu verdauen.
Zweihundertfünfzig Opfer, das ist die magische Zahl. Zweihundertfünfzig Opfer, das ist eine schlimme Katastrophe – so habe ich es mir gemerkt, als ich ein Kind war und zum ersten Mal eine Naturkatastrophe in den Nachrichten verfolgte. Damals, 1985, brach in Kolumbien der Vulkan Nevado del Ruiz aus, und eine Schlammlawine begrub ganze Dörfer unter sich. Zweihundertfünfzig Menschen starben, so blieb es bei mir hängen, und jede weitere Katastrophe musste sich damit messen – schlimmer oder nicht so schlimm. Erst dreißig Jahre später, als ich das Unglück nachlas, verstand ich, dass damals in Wirklichkeit fast zehnmal mehr Menschen gestorben waren.
Vielleicht hatten meine Eltern die Zahl der Opfer für mich heruntergespielt, damit ich als Zehnjährige in der Lage war, die Bilder besser zu verarbeiten, vielleicht hatte ich selbst die Zahl falsch abgespeichert – meine Maßstäbe waren das Dorf, in dem ich lebte, tausend Einwohner, die dazugehörige Stadt, vierzigtausend Einwohner, und die nächste Großstadt, zweihundertfünfzigtausend. Mehr Tote als Menschen in meinem Dorf lebten hätte ich nicht fassen können, und so merkte ich mir eine handliche, kleine Zahl, mit der ich arbeiten konnte und die doch zu den Bildern in den Nachrichten passen wollten.
Ich biege mir die Fakten zurecht, bis ich sie verarbeiten kann, selbst wenn sie dann nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun haben – wo bin ich dann anders als die Aluhüte und Schwurbler, die Corona- oder gar Holocaustleugner? Was nicht passt, wird passend gemacht. Aber damals war ich zehn, und es war meine erste Katastrophe. Jetzt bin ich 46, und die Welt ist um viele Katastrophen reicher, sie sind gekommen und gegangen, haben mich bewegt und erschüttert und doch nicht betroffen. Warum kann ich dann jetzt nicht einfach anfangen zu akzeptieren, was passiert ist?
Ich hoffe, dass es vorbeigeht, dass ich doch funktioniere wie ein normaler Mensch, aber ich fühle mich nicht wie einer. Im Moment fühle ich mich nicht einmal menschlich. Ich finde in mir nur stumpfe Leere, wo Trauer sein sollte, oder Zorn, oder andere Gefühle. Ich schlafe gut, besser als sonst in den letzten Wochen, und hasse mich dafür, nicht ausgerechnet jetzt schlaflos zu sein, wo mich nicht der Verkehr auf der Europastraße in den Schlaf brummt, sondern mächtige Pumpen, mit denen immer noch Gebäude ausgepumpt werden.
Ich verachte mich dafür, dass uns nichts Schlimmeres widerfahren ist, es fühlt sich unverdient an, und ein Teil von mir wartet immer noch auf die Katastrophe, auf einen Nachschlag, der auch mich betrifft, und in meiner Phantasie wird unser Haus von einem Erdrutsch begraben, wenn die bewaldete ehemalige Kohlehalde direkt gegenüber vom Dauerregen aufgeweicht den Halt verliert und, wie 1966 bei der Katastrophe von Aberfan, sich über die Häuser ergießt. Aber irgendwo. Unter dem Strich, ist alles nur eine Geschichte – das, was war; das, was ist, und das, was sein könnte.
Nichts ist wirklich. Ich bin Schriftstellerin, daran gewöhnt, dass sich meine eigenen Geschichten für mich so wirklich anfühlen wie etwas, das wirklich passiert ist, aber wenn dann umgekehrt wirklich etwas passiert, dann ist das auch wieder nur eine Geschichte. Aber diesmal eine, auf die ich keinen Einfluss habe, die ich nicht umschreiben kann, nicht editieren, kürzen, in die Tonne kloppen. Ich mag diese Geschichte nicht, das, was aus der Welt geworden ist. Ich finde immer weniger Gründe, dass sich das Leben doch lohnt, und das macht mir Angst.
Im letzten Jahr habe ich noch gedacht, jetzt kann es schlimmer nicht mehr kommen, und die Welt schmettert mir ein »Challenge accepted!« entgegen und beweist, dass das dicke Ende noch lange nicht gekommen ist. Wenn das 2020 war, und 2021 ist, dann fürchte ich mich von 2022. Es ist ein Teufelskreis: Durch Covid, durch die damit verbundene Isolation, fehlen mir die Menschen, die Lichtblicke. Meine Familie, meine Freunde – ich habe meinen Mann, immerhin, ich wäre verloren ohne ihn, aber ein einziger Mann ist eine sehr kleine Welt, und ein einziges Haus eine sehr kleine Insel.
Draußen vor der Tür … So weit kann ich gerade noch nicht gehen. Ich komme bis zur Schwelle, mit Glück bis zum Briefkasten. Ich hoffe, es wird besser, in ein paar Tagen oder so, ich brauche Zeit, und ich kann sie mir nehmen. Aber bitte, fragt ab und an nach mir. Es fühlt sich an, als hätte ich die Welt verloren. Aber selbst verlorengehen will ich nicht. Wenn es einen Grund für mich gibt, auf dieser Welt zu bleiben, und in dieser Wirklichkeit, dann bin das ich.